Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
zurzeit!«, erwiderte er sanft und zog sie in seine Arme. Einen Moment lang schauten sie über die dunklen Dächer zu den Türmen von Notre-Dame, auf die das helle Licht des Mondes fiel. Madeleine sah erneut den flatternden Umhang vor sich. Sie erstarrte, denn plötzlich wusste sie, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.
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N icolas versuchte, sie zu beruhigen. Sie waren nach unten in ihr Gemach gegangen. »Warum sollte es etwas zu bedeuten haben, dass du diesen Umhang in deinem Traum gesehen hast?«, fragte er erneut.
»Es ist nicht irgendein Traum. Du weißt, wie oft ich ihn gehabt habe, wie viele Male ich wieder und wieder durch die blutüberströmten Straßen gelaufen bin, in denen die Menschen gekämpft haben! Und dieser Umhang ist immer wieder aufgetaucht. Ich sehe vor mir, wie der Mann, der ihn trägt, einer Frau die Kehle durchschneidet und ein Kind ersticht!« Madeleine lief aufgeregt vor ihm auf und ab. Panik hatte sie ergriffen.
»Aber du sagst selbst, dass der Traum verschwunden ist, seitdem du mit der Medici darüber gesprochen hast«, gab er zu be denken. Er umfasste ihre Hände. »Es steht nicht fest, dass es wirk lich geschehen wird, nur weil du es geträumt hast, Madeleine!«
»Und warum sehe ich dann diesen Umhang?«
Er zog sie zu sich. »Weil du so sehr fürchtest, dass es wahr werden könnte! Aber es gibt keinen Grund. Der König hat Coligny und den Protestanten Schutz versprochen, und er wird die Guise zur Rechenschaft ziehen. Margot ist jetzt mit Henri de Navarre verheiratet! Diese Hochzeit hat unsere beiden Konfessionen miteinander verbunden.«
Sie blickte ihn zweifelnd an und wünschte sich inständig, dass er Recht hatte, doch seine Worte konnten sie nicht wirklich beruhigen.
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I m Louvre erfuhr sie am nächsten Vormittag von Rémi, dass die Guise vor dem König erschienen waren.
»Die Nattern haben natürlich geleugnet, etwas mit dem Anschlag zu tun zu haben«, berichtete der Zwerg, der die Einzelheiten von Fôlle hatte. »Aber der König hat ihnen ins Gesicht gesagt, dass sie sich ihre Worte sparen könnten. Es würde eine Untersuchung geben, und bis dahin würde er ihnen empfehlen, sich fernab des Hofs und weit fort von Paris aufzuhalten!«
»Wirklich?« Madeleine blickte ihn erfreut an. Das kam fast einer Verbannung gleich! Sie verabschiedete sich mit einem erleichterten Gefühl, das genauso lange anhielt, bis sie an der Ecke des Flures angelangt war. Die Gemächer des Seitentrakts wurden gewöhnlich nur von Gefolgsleuten bewohnt, umso erstaunlicher war es, hier ein Mitglied der königlichen Familie anzutreffen: Es war Henri d’Anjou, der jüngere Bruder des Königs, der dort am Ende des Ganges stand – zusammen mit Philippe de Ronsard. Madeleine wich voller Schrecken einen Schritt zurück.
Die beiden Männer waren aus einem der Räume gekommen, und Henri d’Anjou legte Ronsard kurz die Hand auf die Schulter, bevor die beiden um die Ecke des Flures bogen.
Madeleines Herz raste. Was hatte Ronsard mit dem Prinzen zu tun? Sie drehte sich um und hastete aus Angst, den beiden Männern noch einmal zu begegnen, den Flur zurück, einem anderen Ausgang zu. Ronsard und Anjou? Nicolas und der Admiral mussten das unbedingt wissen. Sie rannte über den Hof, um, so schnell es ging, zurück zum Palais zu kommen. Vor den Toren des Louvre hatte sich eine Gruppe wütender Protestanten versammelt:
»Der König soll uns sagen, warum in der Stadt Waffen verteilt werden!«
»Ja, wenn nicht gegen uns, gegen wen will man sie dann richten?«
Madeleine lief weiter, an den erregten Menschen vorbei, als ein runder Gegenstand vor ihre Füße rollte. Es war ein verschmutzter Stoffball. Ein kleiner Junge, der höchstens zwei oder drei Jahre alt sein konnte, kam darauf zugelaufen, und Madeleine musste abrupt in ihrem Schritt innehalten, um ihn nicht umzurennen.
»Verzeihung!« Zwei schlanke Arme hoben das Kind mit einem Schwung hoch, und eine Frau lächelte ihr zu. Madeleine kannte ihr Gesicht. Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie war es, der die Gestalt im Umhang die Kehle durchgeschnitten hatte und deren Kind erstochen wurde! Madeleine fasste die Fremde beschwörend am Arm. »Auch wenn Ihr mich nicht kennt, müsst Ihr mir das, was ich Euch jetzt sage, glauben! Geht, verlasst mit Eurem Kind die Stadt! Ihr werdet sonst beide sterben«, sagte sie eindringlich.
Die Frau sah sie erschrocken an.
Madeleine stürzte schon weiter und begab sich, zurück im Palais, sofort zu
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