Das Mädchen: Roman (German Edition)
würde ihn ihr Anblick ermüden, und erklärt mit ernster Stimme, dass er heute noch die Jugendhilfe informieren wird.
Die Mutter versetzt die Ankündigung dieses Besuchs in Aufregung. Sie steht auf dem Flur und lässt ihren Blick schweifen. Die Geschwister müssen den Boden schrubben, die Fenster putzen, die Treppe bohnern. Alex und sie bekommen neue Schuhe, und der Vater drückt ihr zwanzig Mark in die Hand, einfach so.
Es ist eine ältere Frau, die dann vor der Tür steht. Das Treppensteigen hat sie erschöpft, ihr Atem kommt in kurzen Schüben aus dem Mund. Sie lässt sich von dem gedeckten Abendbrottisch täuschen, von der besorgten Stimme der Mutter und natürlich von der Hauptperson, die ihr glaubhaft versichert, dass sie ein ganz normales, schönes Leben führt.
Am nächsten Tag will der Vater die zwanzig Mark zurück, doch damit hat sie sowieso gerechnet.
Schlaftrunken ruft sie früh morgens ihren Bruder ans Fenster. Schneeflocken schweben durch die Luft, die Dächer glänzen weiß. Sie blinzelt reglos in das helle Gestöber; die Schläfrigkeit weicht, und Freude durchströmt sie. Die Geschwister ziehen sich eilig an und rennen nach draußen. Auf der Straße atmen sie die Schneeluft ein, reißen den Mund auf und lassen die Flocken auf der Zunge schmelzen.
Freude ist etwas Wichtiges in ihrem Leben. Sie freut sich, wenn in der Wohnung alles still ist und sie lesend im Bett liegt; wenn sie Hunger hat, liest sie ihr Lieblingsmärchen, in dem das kluge Gretel zwei Hühner für ihren Herren über dem Feuer braten soll, erst den einen Flügel, dann den anderen kostet und schließlich nicht mehr an sich halten kann und den ganzen wunderbar duftenden Braten aufisst. Immer, wenn sie dieses Märchen liest, malt sie sich genau aus, wie sie später selbst Hühner und Enten in ihrer Küche zubereiten wird, sie stellt sich einen eisernen Herd vor, die Töpfe sind groß und schwer, das Geschirr hat blaue Tupfen.
Sie spielt noch mit Puppen, und es macht ihr Freude, Kleidung für ihre Puppen zu häkeln oder ihnen aus alten Stoffresten etwas zu schneidern. Manchmal kann sie nicht einschlafen, weil sie sich den Kopf zerbricht, was Kerstin, die große Blonde, und die noch namenlose Negerpuppe anziehen sollen. Sie geht Flaschen sammeln und stiehlt Geld für das Leben ihrer Puppen.
Sie freut sich auf Weihnachten. Schon Wochen vorher plant sie genau, wer welche Geschenke bekommt. Unter ihrem Bett befinden sich neben anderem Diebesgut auch drei Blusen, jede so groß wie ein Zelt, die sie für Elviras Mutter im Kaufhaus gestohlen hat. Am Dienstag vor Weihnachten, nach dem alten Film, überreicht sie Elviras Mutter das eingewickelte Geschenk. Schwer atmend sitzt diese auf dem Küchenstuhl, der unter ihren Massen verschwindet, ihr Doppelkinn zittert, als sie versucht, die Schleife zu lösen. Sie packt die Blusen aus, hält sie hoch, eine nach der anderen.
Drei Blusen?
Rot, gelb und grün, sagt sie, ich dachte, das steht Ihnen.
Das ist sehr nett, aber warum drei?
Ich konnte mich nicht entscheiden, sagt sie, ohne zu überlegen, und fühlt ein Pochen hinter ihrer Schläfe.
Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann, sagt Elviras Mutter. Hörbar seufzend packt sie alles wieder ein.
Das Geld hab ich gespart, sagt sie schnell, ich war Flaschen sammeln, doch dann spürt sie, dass etwas falsch ist, sie will Elviras Mutter nicht anlügen. Sie gibt zu, die Blusen gestohlen zu haben.
Damit muss Schluss sein, sagt Elviras Mutter nach einem langen Schweigen.
Sie starrt auf die dunklen Härchen über ihrer Oberlippe und verspricht es.
Ihr Vater schmückt den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, schwungvoll wirft er das Lametta über die Äste. Sie verharrt auf der Türschwelle und beobachtet ihn. Er ist älter als ihr Klassenlehrer, und doch erscheint er ihr jünger, er trägt einen blauen Overall wie ein Handwerker, zu seinen Füßen liegen bunte Kugeln und ein Wust von zerknitterten Papieren. Als er sie bemerkt, hält er kurz inne.
Wusstest du, dass die Rothaarigen langsam aussterben?, sagt er gedankenverloren.
Woher weißt du das?, sagt sie und setzt ein interessiertes Gesicht auf.
Er zuckt die Achseln und blickt in Richtung Fenster. Keine Ahnung, sagt er. Dann greift er zur nächsten Lamettapackung und verteilt die silbernen Fäden auf den Ästen. Der eine weiß das, der andere das, seine Stimme klingt, als müsse er nach Luft schnappen. Ist doch keine große Sache, sagt er, starrt auf die Uhr an seinem Handgelenk, dann sieht er seine
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