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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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sicherlich konnte das nicht passieren.
    Die Sonne wurde heißer und tauchte das Zimmer in Licht. Der Speck duftete, und eine goldene Fliege landete darauf und hielt ein Festmahl.
    Es war Mittag. Das Piefel war nicht gekommen und würde auch nicht kommen.
    Tanaquil erhob sich. Sie hatte ihren Hosenrock gefunden, und nun stopfte sie seinen Saum in die Stiefel. Sie schwang sich über die Fensterbrüstung nach draußen und setzte einen Fuß auf das abfallende Dach darunter.
    Hier draußen brannte die Sonne erbarmungslos. Es war eine Welt aus Dachhügeln und Regenrinnen, mit Büschen von Wetterfahnen und alten, geheimnisvollen Leitungen gekrönt. Die kupfernen Dachschindeln brannten grünlich in der Sonne, und hier und dort stand ein Wäldchen aus Schornsteinen. Darüber erhoben sich die höchsten Türme und die Heckenreihen er Zinnenkränze, wo zwei Soldaten mit einem blechernen Speerklackern aneinander vorbeigingen. Befand sich das Nest auch hier zwischen den Dächern, oder hatte das Piefel sich aus einer Laune heraus dazu entschieden, zu ihrem Fenster hochzuklettern?
    Tanaquil suchte sich ihren Weg über die Kupferschindeln, trat in den Schatten der Schornsteine ein und wieder heraus. Das Piefel konnte sich ebensogut ein Lager in einem der eher selten genutzten Rauchfänge angelegt haben. Sie lugte in Spalten hinein und entdeckte rote Blumen, die aus den Ritzen emporwuchsen. Weiter fort, unter der Traufe der Bibliothek, hing ein großes, unordentliches Nest, das einst von irgendwelchen Raben benutzt worden war. Sie hatten zu sprechen gelernt und waren fortgeflogen, wobei sie gekrächzt hatten, daß ihnen der Abfallhaufen der Festung nicht interessant genug sei. Das Nest lag im Schatten eines Turms, geschützt von Gebäudevorsprüngen und Dachgiebeln.
    Tanaquil stieg zu einem trockenen Kanal zwischen den Dächern herunter und kämpfte sich durch die Blumen vor. Am Ende des Kanals befand sich eine Zisterne voll mit abgestandenem Wasser - nachts nahm sie den Schnee auf, der dann tagsüber gärte. Am Rande der Zisterne befanden sich schwarze Pfotenabdrucke.
    Um das Dach der Bibliothek zu erreichen, mußte Tanaquil einen schmalen Spalt überspringen, auf dessen Grund sie den Küchenhof weit unten sehen konnte. Kissen und ein anderes Mädchen, vielleicht Wurst, hängten gerade Wäsche auf. Von hier oben wirkten sie so klein wie die Puppe des Kindes. Tanaquil holte einmal tief Luft und sprang. Sie landete auf der Bibliothek und hörte, wie Kissen weiter unten sagte: »Hör mal, diese Raben müssen zurückgekommen sein.«
    Einer der Soldaten sah ebenfalls von den Zinnen herüber. Tanaquil fürchtete für einen Moment, er möge sie für einen Eindringling halten und auf sie feuern, aber er winkte ihr nur zu.
    Das Rabennest war leer, doch auf seiner anderen Seite führte ein Kanal unter den Wänden des Turms und dem überhängenden Dach entlang. Tanaquil schlüpfte in den tiefen Schatten und stolperte über einen Haufen aus Stoffetzen und Stroh. Die Mauer roch nach Piefel, sauberem Fell und Fleisch und Geheimnissen. Außerdem gab es noch einen Hort von allerlei Krimskrams — eine kleine Pfanne aus der Küche, ein paar Ziermünzen, wahrscheinlich von einem der Gewänder Jaives, eine Speerspitze ... und, wie weißes Wasser im Schatten schimmernd — »Sieben«, sagte Tanaquil laut, »sieben von ihnen.« Sieben Knochen wie der, den Tanaquil in der vergangenen Nacht zu Gesicht bekommen hatte: zwei sehr kleine und ein sehr langer, zerbrochener und gebogener, vielleicht eine Rippe, und vier, die dem ersten genau glichen, als seien sie eine exakte Kopie. Und alle wie Milchkristall und Sterne.
    » Böse .«
    Tanaquil schreckte schuldbewußt hoch. Sie blickte auf, und dort oben, auf dem Rand des Rabennests, zeichnete sich die Silhouette des Piefels gegen den gleißenden Himmel ab. Seine Haare standen zu Berge, die Ohren waren gespitzt, der Schwanz zu einer furchterregenden Bürste aufgebauscht. Zwischen seinen Vorderpfoten lag ein weiterer dieser erstaunlichen Knochen. Der achte.
    »In meinem Versteck«, grollte das Piefel. Tanaquil fragte sich, ob es sie wohl angreifen würde. Dann glättete sich sein Fell wieder, und die Ohren schlappten herunter. Sein Gesicht nahm einen verlorenen und traurigen Ausdruck an.
    »Sieh mal, ich nehme dir ja nichts weg«, beruhigte Tanaquil das Tier reuevoll. »Ich habe darauf gewartet, daß du zurückkommst und mir den Knochen noch einmal zeigst. Und als du nicht kamst, bin ich eben hierher

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