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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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denken«, hatte Jaive der neunjährigen Tanaquil erzählt, »daß diese Welt schlecht gemacht ist. Wir Zauberer jedoch glauben, daß es noch andere Welten gibt, von denen manche schlechter, eine jedoch das verbesserte Abbild unserer eigenen ist. Und von dieser perfekten Welt können wir hin und wieder einen flüchtigen Abglanz erhaschen.« Und sie hatte versucht, Tanaquil den Gebrauch des magischen Spiegels zu lehren, doch Tanaquil hatte einen Fehler gemacht, der Spiegel war zersprungen und Jaive sehr wütend geworden.
    »O Mutter«, platzte es aus Tanaquil heraus.
    Sie blieb auf dem Brückenberg sitzen, bis die Sonne über den sanften Dünen des Westens zu versinken begann. Dann erhob sie sich und begab sich wieder zu der Festung der Zauberin zurück.
    Wahrscheinlich würde sie noch ein paar kalte Happen in der Küche ergattern können - nur selten fand ein richtiges Abendessen im Bankettsaal ihrer Mutter statt. Im Anschluß daran wollte sie die Bibliothek durchforsten, um ein lesbares Buch in die Finger zu bekommen - obwohl die Bibliothek von Folianten überquoll, gab es von der lesbaren Sorte nur wenige. Und danach? Was konnte sie schon tun, außer zu Bett zu gehen und so lange wie möglich zu schlafen.
    Von der Bibliothek, wo sie in einem Buch über alte Hexenkunst und einem Pergament über Zauberer-Fürsten gelesen, sonst aber nichts Interessantes entdeckt hatte, ging Tanaquil wieder hoch in ihr Zimmer. Sie entschloß sich, einige ihrer verschwundenen Kleidungsstücke zu suchen, die sich gewöhnlich an den absurdesten Orten verbargen, zum Beispiel oben im Kaminschacht, oder sich unter den Möbeln tarnten, indem sie chamäleongleich die Farbe wechselten.
    Als sie den Rauchfang untersuchte, erinnerte sie sich wieder an das Piefel, das auf der Suche nach einem Knochen durch den Kaminschacht gehuscht war. Sie hoffte, daß es wieder einen Weg hinaus gefunden hatte. Obwohl die Nächte eiskalt waren, wurden doch nur selten Kaminfeuer entzündet. Im Vorübergehen drückte Tanaquil auf den Löwenmund, um Wasser zu erhalten, doch ein Schwall von Papierblumen quoll hervor. Draußen vor dem Fenster trieb leichter Schneefall auf die Wüste zu. Der Mond war aufgegangen, und die Dünen sahen aus wie glasierte Kekse.
    Tanaquil blickte auf ihr Bett.
    Auf den Kissen lag etwas Rundes und Schwarzes. Tanaquil näherte sich vorsichtig. »O nein!« rief sie aus. »Du garstiges Tier!«
    Das Piefel von heute morgen — über und über mit schwarzem Ruß bedeckt, den es großzügig überall auf dem Bett und den Kissen verteilt hatte, ganz zu schweigen von den dekorativen schwarzen Pfotenabdrücken — hob den Kopf.
    »Was?« nuschelte das Piefel.
    »Sieh doch nur, was du angestellt hast, du Plagegeist!«
    »Nichts angestellt«, grummelte das Piefel. »Was angestellt?« Es sah sich erstaunt um.
    »All diesen widerlichen Schmutz ... «
    »Ruß«, erklärte das Piefel. »Putzen, putzen«, fuhr es fort und rollte sich auf die Seite, um sich halbherzig zu lecken, was den Ruß noch besser verteilte.
    Tanaquil griff sich das Piefel und trug es zum Fenster. Sie setzte es unsanft auf der Brüstung ab und versetzte ihm einen harten Klaps. »Raus hier. Geh weg.«
    »Mond«, murmelte das Piefel und starrte hingerissen himmelwärts.
    »Geh endlich weg.«
    Tanaquil schlug die Fensterläden hinter ihm zu.
    Sie träumte, daß sie im Schnee über die Dünen rannte. Ihre Füße waren bloß, und sie flog wie der Wind dahin. Es gab keine Felsen, keine Anzeichen für eine Festung, sie wußte nicht, wo sie war, und es kümmerte sie nicht.
    Sie erwachte durch lautes Schaben und Kratzer an den Fensterläden.
    »Reinkommen«, verlangte eine Stimme. »Jetzt reinkommen.«
    »Geh fort«, wiederholte Tanaquil in Richtung Piefel.
    Doch das Piefel hörte nicht auf, zu kratzen und Einlaß zu verlangen.
    »Wenn ich ans Fenster komme, schmeiße ich dich auf das Dach runter«, drohte Tanaquil.
    »Will reinkommen«, insistierte das Piefel. »Jetzt.«
    Murrend stand Tanaquil auf. Sie stieß die Läden mit Schwung auf. Dort, inmitten eines schimmernden Ovals aus Mondschein, hockte das Piefel. »Knochen«, erklärte das Piefel bedeutungsvoll, »hab Knochen gefunden.«
    Und es beschnüffelte etwas, das vor seinen Pfoten auf dem Boden lag.
    Tanaquil sah genauer hin. Was sie zunächst für einen Streifen Mondlicht gehalten hatte, war etwas anderes. Es war ein Knochen. Lang und schlank, nicht menschlich, nicht auf den ersten Blick zu identifizieren, und das Material, aus dem er

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