Das Mädchen und der Schwarze Tod
krampfhaft, während Blut aus der Nase quoll. Dem Maler wurde ganz flau im Magen, als ihm klar wurde, dass der Mann sterben würde. Die klaren grauen Augen starrten ihn aus schmerzesfeuchten Lidern an. Notke stellten sich die Nackenhaare auf. Dann brach der Blick, und der Körper erschlaffte.
Notke saß benommen da und sah hinunter auf den geschundenen Leib. Erst lange Momente später gestand er sich ein, dass der Priester tatsächlich tot war. Vor seinem inneren Auge sah er bereits Marike Pertzevals entsetztes Gesicht, wenn sie diese neue Hiobsbotschaft erhielt. Wenn das so weiterging, würde sie ihn mit sämtlichen Verlusten in ihrem Leben verbinden. Notke bekreuzigte sich und schloss dem Leichnam die Augen. So wenige Augenblicke trennten den Menschen vom nächsten Leben. Er hatte sich den Tod immer wie den Übergang durch eine Mauer aus Dunkelheit vorgestellt, hinter der Licht oder Schatten, Himmel oder Hölle warteten. Wohin hatte dieser Mann gefunden? Selbst der sonst so sarkastische Maler mochte nicht glauben, dass Martin irgendwo anders als in den Himmel an Gottes Thron gesandt worden war. Doch dem Mann beim Sterben in die Augen geschaut zu haben fühlte sich an, als habe er hinter eine Tür gelugt, die kein Mensch öffnen sollte. Hätte Martin doch nur einen Hinweis auf seinen Mörder geben können! Bei diesem Gedanken schaute Notke sich nach dem zweiten Körper um, der unweit lag. Hatte der Pater ihn erschlagen? Sein Blick fiel auf die vernarbte Stelle des Kopfes, an der ein Ohr fehlte. Kannte er den Kerl nicht vom Rovershagen?
»Hab ich dich!«, gellte eine Stimme hinter ihm. Notke erstarrte. »Weg von ihm! Los, bewegt Euch!« Doch er kam nicht schnell genug wieder in die Senkrechte, bevor ihn eine starke Hand am Kragen packte und nach hinten wegschleuderte. Über ihm stand Konrad Brigen mit zwei Bütteln. Der stämmige starke Fron suchte schnell selbst nach Lebenszeichen in dem Priester. Nach einigen Augenblicken wendete er sich mit finsterer Miene zu Notke um und funkelte ihn an. »Dafür wirst du hängen, Schurke!«, zischte er. Und ehe der Maler sich’s versah, hatte der andere ihn beim Kragen gepackt und hochgezerrt.
»Herr Fron«, versuchte Notke schließlich zu erklären, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, »Ihr habt den Falschen! Ich wollte nur helfen, ich -« Ein Schlag mit der Faust ins Gesicht riss ihn herum und schleuderte ihn wieder zu Boden. Noch standen ihm die Lichter vor Augen, da trafen ihn Tritte in den Bauch und gegen den Oberschenkel. Notke schrie vor Schmerz.
»Hier ist noch einer«, vermeldete einer der Büttel, der sich über die Gestalt in der braunen Tunika gebeugt hatte. »Den Kerl kenne ich – Stocker heißt er. Ein Schurke, dem schon jemand für seine Untaten das Ohr abgeschnitten hat. Er ist tot.«
»Vermutlich hat der arme Pater Martin ihn erwischt – oder dieser Gauner hier wollte keine Zeugen hinterlassen.«
»Ich kenne den Mann nicht«, murmelte Notke, sich den schmerzenden Bauch haltend.
»Spar dir dein Gewinsel für den Galgen«, knurrte Brigen. »Ein Dutzend Leute hat dich mit einem Knüppel durch die Stadt rennen sehen!« Er näherte sich grinsend und zischte leise: »Hast du heute den Mörder des Bischofs gesehen? Der hatte Glück. Bei ihm gings schnell. Baumelst du, dauerts länger, viel länger. Und jeden Augenblick wirst du dir wünschen, du hättest die sieben Türme von Lübeck niemals gesehen.«
Stöhnend rappelte Notke sich auf und hielt sich die schmerzende Seite. »Fragt Oldesloe«, keuchte er noch ganz atemlos. »Fragt den Küster, wer Martin hergeschickt hat!«
Als Antwort wurde sein Arm herumgerissen und auf den Rücken geklemmt, und er schrie wieder auf. Viel fehlte nicht, und der Mann hätte ihm die Elle gebrochen.
»Meint Ihr wirklich, Freimeister «, zischte ihm Brigen wütend ins Ohr, »dass ein vom Rat geduldeter Mann wie Ihr den eigenen Gönner beschuldigen sollte? Glaubt mir, der Rest von Lübeck sieht Euch gerne baumeln. Der Einzige, dessen Leumund Euch das Leben retten kann, ist Anton Oldesloe!« Doch dieser Gedanke beruhigte Bernt Notke kaum.
KAPITEL 10
D ie Tage nach Lynows Zusammenbruch in der Marienkirche zeigten, dass eine neue Welle der Pestangst Lübeck überflutete. Mehr und mehr Kranke in den Vierteln der einfachen Arbeiter und Handwerker waren entdeckt worden und bestätigten, dass die Pest schon lange in der Stadt wütete.
Noch immer hievten reiche Bürger ihre Habseligkeiten auf Karren, Flusskähne oder
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