Das Mädchen und der Schwarze Tod
Scherze!«
»Nein, wohl nicht«, murmelte die Hure. Sie seufzte. »Veles steht für viele Dinge. Er ist zum Beispiel ein Gott der Musiker«, sie lächelte scheu. »Er ist ein Schelm, ähnlich wie euer Reineke Fuchs.« Damit konnte Marike etwas anfangen – der Fuchs, der den viel stärkeren Löwen nur mit seiner Klugheit besiegte. »Er ist der Gott des Viehs, von Wachstum und Gedeihen. Zudem soll er Wohlstand, ja Reichtum mehren. Daher lieben die Händler ihn so.« Anna verstummte kurz und musterte Marike kritisch. Schließlich fuhr sie leiser fort: »Er ist auch der Gott des Todes und der Unterwelt. Doch das ist kein schlimmer Ort, wie eure Hölle«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »sondern eine grüne Landschaft mit Vieh und Feldern, wo ewiger Frühling herrscht.«
»Das hört sich an, als sei dein Gott ganz schön beschäftigt«, meinte sie leise.
»Nicht beschäftigter als deiner«, feixte die Hure frech. »Der will die Welt in sieben Tagen erbaut haben.«
Bei diesen ketzerischen Worten begann sich in der Kaufmannstochter der Widerspruch zu regen. Sicher mochte die Fiedlerin an diesen Gott glauben. Aber wer hatte sie denn dazu gebracht? Vielleicht gar Pfeifer?
Offenbar sah Anna, dass sie nicht überzeugt war. »Soll ich dir die Legende erzählen?«
»Welche Legende?«
»Vom Kampf zwischen Veles und Perun.«
Marike nickte zaghaft, und so hob die Fiedlerin zu sprechen an, das Gesicht in der schattigen Kapelle nur halb beleuchtet. »Veles ist die Schlange in den Wurzeln des Weltenbaumes. Er liebt eine Frau, die so schön ist wie Morgen und Gestern. Doch Perun, der Falke im Geäst, der Donnergott, liebt diese Schönheit auch. Er hat Veles seine Frau gestohlen und will ihr den Himmel schenken. Doch Veles ist voll List. Er kriecht aus der erdigen Finsternis den Weltenbaum hinauf zu den Ästen. Dort oben verschlingt er das Weib – in einem Stück – und kriecht mit ihr wieder hinab in die Unterwelt. Man sagt, sie leben dort glücklich miteinander, denn Veles schenkt ihr die Erde. Draußen jedoch verdorrt der Weltenbaum derweilen, denn der Himmel ist leer und die Krume trocken. Daher verfolgt Perun den bösen Räuber und schleudert seine Blitze. Ihr Kampf ist eine Zeit von Sturm und Chaos, und die Bewohner des Weltenbaumes fliehen voller Angst in ihre Hütten und Löcher. Schließlich muss Veles sterben, damit der Weltenbaum leben kann. Und die Schönheit regnet vom Himmel herab und nährt das Land. Perun führt sie heim in sein Reich. Doch Veles ist die Schlange.« Die Fiedlerin lächelte. »Er schüttelt seine tote Haut ab und kehrt im nächsten Jahr zurück, um seine Geliebte zurückzuerobern. Denn er kann niemals von ihr lassen.«
Marike studierte ihrerseits das Gesicht der Hure. Sicher, sie war eine Hübscherin, eine unehrliche Schaustellerin und nicht wirklich vertrauenswürdig. Und trotzdem klang etwas im Ton ihrer Stimme mit, wenn sie von diesem Veles erzählte, und es gab einen Ausdruck in ihren Zügen, der sie an Pater Martin erinnerte, wenn der von Jesus und dem göttlichen Vater erzählt hatte. Und diese Legende klang wie ein alter Mythos vom Jahreslauf, mit Regen und Dürre, Sturm und Winter, gar nicht wie ein Teufelskult …
Doch Marike blieb auf der Hut. Gehörnte Wesen, Schlangen, die teuflische Musik des Flötenspielers, Lug und Trug … Auch der Teufel lockte mit Wohlstand und Gold, um die Seelen an das Diesseits zu binden. Und schließlich mochte die Unterwelt – die Hölle – für Fehlgeleitete wie ein Paradies wirken, wenn sie versuchten, Unschuldige zu verderben.
»Du hast auf meine Frage nicht geantwortet«, sprach sie daher.
»Frage?«
»Ob dein Gott Menschenopfer fordert.«
Die Hure blinzelte verärgert, doch sie überlegte sich ihre Antwort offenbar sehr genau. »Nicht, dass ich wüsste. Aber man sagt, er straft Eidbrecher mit Krankheiten.« Marike fuhr ein Schauder den Rücken hinab. Notke hatte berichtet, in der Bruderschaft würde man einen Eid auf diese Kreatur leisten. Brach dieser Dämon so den Widerstand seiner Opfer? Benutzte der Pfeifer die Bürger so für seine Zwecke? All das Leid, der Tod – solch einen Plan konnte sich doch kein Mensch ausdenken, der bei klarem Verstande war?
»Wo ist er?«, fragte Marike mit belegter Stimme. »Der Pfeifer – wo kann ich ihn finden?«
»Er war es nicht. Was ihr ihm auch vorwerft – er hat es sicher nicht getan«, beschwor Anna die Kaufmannstochter. »Ich weiß nicht, was er mit eurer Geschichte zu tun hat, aber den Pater
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