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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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gutmütige Kerl, den sie in der letzten Zeit immer bestellt hatten, wenn es etwas am Haus zu tun gab! Ihr wurde eiseskalt. Sie zwang sich, den Totentanz erneut zu betrachten und zu überprüfen, wer der Nächste in der Reihenfolge war.
    »Marike?«, hörte sie ihren Vater neben sich besorgt fragen. »Marike, ist alles in Ordnung?«
    Doch die Kaufmannstochter antwortete nicht. Als sie die Gestalt auf dem Bild erkannte, da riss sie die Tür auf und rannte los, nach Hause. Sie ahnte – nein, sie wusste! -, wer der Nächste sein würde.
    »Marike! Um Himmels willen, bleib doch hier!«, krächzte ihr Vater hinter ihr.
    Doch Marike hielt nicht an. Hartmann war der Handwerker auf dem Bild gewesen. Der Klausner wäre der Nächste im Totentanz. Alle Opfer waren aus ihrem Umfeld gewesen. Doch nein, das stimmte nicht, denn Oldesloe wählte die Sterbenden aus seinem Bekanntenkreis, nicht ihrem. Der einzige Klausner, von dem sie wusste, war der alte Willem, der in ihrem Wohnkeller hauste. Sollte er heute Nacht sterben? Eine kalte Wut hatte von Marike Besitz ergriffen. In Lübeck starben genug Leute, ohne dass die Menschen dabei nachhalfen. Diesen einen Tod würde sie verhindern – koste es, was es wolle.

DER KLAUNER
    Der alte Willem humpelte die staubigen Straßen entlang. Ein dünner Stock diente ihm als Gehhilfe und beugte sich bedenklich, als der alte Mann sich darauflehnte, um das sanfte Gefälle der Johannisstraße zu bewältigen. Willems Hüfte schmerzte schlimm – wie eigentlich alle seine Knochen. Er konnte die dünnen Finger kaum noch krümmen, weil seine Gelenke dick und geschwollen waren, doch er achtete peinlich darauf, dass ihm trotz des Schmerzes der Stock nicht entfiel. Das Aufheben wäre um ein Vielfaches schlimmer. Der Alte schüttelte seinen Kopf und murmelte ärgerlich in sich hinein, er solle nicht so jammern. »Hast’s nich’ besser verdient, du! De’ Düvel holt dich eh bald!«
    Ein paar zerlumpte Straßenjungs und ein kläffender Köter kamen ihm auf der Straße entgegen. Willem sah ihnen an, dass sie Ärger machen würden. Er kannte diese Sorte Jungs, die sich etwas zu beweisen hatten. Er selbst war vor Jahrzehnten selbst so einer gewesen. »Altes Dreibein«, spottete der Anführer, ein Halbstarker mit schniefender Nase, und versuchte, ihm die Krücke wegzutreten. »Warum streichst du hier draußen herum? Schnüffelst du für die Juden in der Stadt herum, häh?«
    Willem lachte nur. »De’ Düvel wird euch hol’n, Gör’n! Ik hab d’e Pest, d’e hab ik! Kommt un’ gebt dem Ohm’en Kuss!« Er breitete einen Arm aus und schmatzte mit den Lippen.
    Seine Drohung zeigte den gewünschten Erfolg. »Weg. Weg!«, rief der Anführer und gab als Erster Fersengeld. Willem lachte und schüttelte hinter den fliehenden Burschen die Faust. »Kein’ Mumm in’en Knochen!« Er schüttelte grinsend den Kopf. Diese jungen Leute! Zu seiner Zeit hatten er und die Jungs in dem Alter mit Schiffsplanken unter den Füßen schon gehackt und gemordet! Zwar war die große Zeit der Ostseepiraten schon vorbei gewesen, als er damals dazugestoßen war, doch auch sie hatten ihren Teil an Blut vergossen, oh ja! Sie hatten selbst wie die Teufel gewütet, so viel war klar. Der Alte ließ die Faust entmutigt wieder sinken. »Und drum kommst nie inn’ Himmel, Willem«, murmelte er bei sich. »Hast zu viel Freud’ dran gehabt!« Er lebte nun seit ziemlich genau fünfzehn Jahren in seiner Klause und wusste, dass er für seine Untaten noch immer nicht genug gebüßt hatte. Nur manchmal fragte er sich, ob er Buße tat, weil er bereute, oder weil er mit dem Alter merkte, dass auch über ihn irgendwann ein Urteil fällig war.
    Den Sieg über die Burschen bezahlte Willem mit Schmerzen, als er sich wieder vorbeugte und auf den Stock stützte, um seinen Weg langsam in den Pertzevalschen Wohnkeller fortzusetzen. Wenn er in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann Geduld. Das Leben lief nicht mehr so schnell ab wie früher, und Willem fragte sich, ob er nicht im letzten Herbst besser in seiner Klause geblieben wäre, um dort in Schnee und Kälte seinen einsamen Tod zu finden. »Dann wär’s nu’ vorbei«, murmelte er gen Himmel. Doch jeder weitere Tag konnte ein Tag der Buße sein, und vor Sankt Marien konnte er sicher ebenso gut für sich und die Menschen beten wie in seiner alten Klause. Er schaute wieder hinauf zwischen die schnell voranziehenden Wolken am Himmel. »Sollt’st bald überleg’n, ob de mich willst!«, murmelte er.

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