Das Mädchen und der Schwarze Tod
»’s nich’ mehr lang nu’.«
Er bog nicht in den Gang zwischen den beiden Häusern oberhalb des Pertzevalschen Hauses ab, von dem aus man den Hinterhof und seine Kellerkammer erreichen konnte. Stattdessen humpelte er zur Eingangstüre und durch die Diele hinaus in den Hinterhof. Niemand war da, und seine beiden Wohltäter waren ja in Sankt Marien und konnten sich nicht daran stören. Bevor Willem – noch immer vor sich hin murmelnd – hinunter in seinen Wohnkeller kriechen wollte, genoss er hier im Hof die Sonne und den sommerlichen Gesang der Vögel. Der Klang war nicht derselbe wie draußen in seiner Einsamkeit.
»Alter Narr«, schimpfte der Bettler mit erstickter Stimme. Ja, vielleicht hätte er draußen bleiben und sich dort auf das Urteil des Herrn verlassen sollen. Vielleicht hatte er ja doch bereits genug Buße getan. Friedlich schloss er die Augen, das Gesicht gen Himmel gerichtet, und ließ sich wärmen. Doch plötzlich wurden die Vögel um ihn herum ganz still. »Hm?«, machte der Alte und lugte auf den Baum vor ihm, wo ein paar fette Krähen saßen.
Der Stoß von hinten erwischte Willem unvorbereitet. Dann riss ihn etwas wieder nach hinten. Er wankte, nur auf seinen Stock gestützt, vor und zurück. Ein pfeifender Seufzer drang aus seiner Brust, der nicht aus seiner Kehle kam, und er fühlte etwas unter seinen Rippen erschlaffen. Dann meldete sich ein dumpfer Schmerz in seinem Rücken. An dem warmen Strom, der ihm unter dem Kittel über den Rücken lief, merkte er, dass er verletzt war. Er hatte so etwas schon früher erlebt, in seiner wilden Zeit. Schwerthiebe und Dolchstiche merkte man oft erst, wenn es zu spät war, denn der Herr schützte zunächst vor den schlimmsten Schmerzen. Doch Willem wusste auch, dass dies keine Wunde war, von der man sich wieder erholte. Die Luft wurde ihm knapp, denn das Atmen versagte. Ihm kippte erst der Stock aus der Hand, dann konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Noch bevor er sich’s versah, lag er auf dem festen Erdboden des Hofes und sah dunkle Sterne. Dabei schien doch die Sonne auf ihn herab!
Über Willem baute sich eine finstere, große Gestalt auf, die noch die blutige Klinge in der Hand hielt. »Düvel!«, hustete er glucksend. »Hab’s g’wusst!« Doch er wunderte sich, dass die Trippen anders aussahen als beim letzten Mal. Der Gedanke, dass der Teufel eine Auswahl an Schuhen haben könnte, ließ ihn atemlos auflachen.
Dann betete er stumm das Ave-Maria, so wie es ihn die Priester gelehrt hatten und wie er es in seiner Klause immer gebetet hatte. Er rang um Atem, doch er fand nur Blut. Er war nur froh, dass er nicht in seinem Bett sterben musste. Wie hätten seine alten Kameraden ihn ausgelacht! Willem starb schließlich, dem Tod entgegengrinsend.
Wie schon vorgestern hastete Marike mit einer düsteren Ahnung durch die Diele. »Hinrich?«, rief sie den Knecht, doch sie erhielt keine Antwort. »Hinrich!« Ihre Stimme gellte die Treppe hinauf auf die Speicher. Auch da begegnete ihr nur Stille. Der Knecht musste ihre Abwesenheit genutzt haben, sich allein abzusetzen. Ob weggelaufen oder auf Abwegen war ihr jetzt egal – sie hatte sich darauf verlassen, dass er hier wäre und ihr dabei helfen könnte, den alten Willem vor seinem Mörder zu retten. Marike hatte keine Zweifel, dass dieser Anton Oldesloe war, da der Domherr Nikolaus nun tot war.
Hinrich war nicht hier und konnte ihr nicht helfen. Marike würde trotzdem nicht zulassen, dass Willem etwas geschähe. Sie hörte ein Keuchen von draußen und starrte entsetzt auf die Hoftür. War Oldesloe schon hier? Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, denn dann käme sie zu spät. Das durfte nicht sein. Sie hatte keine Ahnung, wozu diese Morde dienten, oder ob sie nur einer widernatürlichen Lust Anton Oldesloes entsprangen. Doch sie würde den Teufelskreis jetzt durchbrechen, ein für alle Mal! Ohne Zögern eilte sie zur Hoftüre und riss sie auf. Der Anblick dahinter ließ sie noch in der Bewegung erstarren.
Zuerst sah sie die dunkle feuchte Stelle auf dem Hof, die im knochentrockenen Staub teilweise noch rötlich schimmerte. Von dort führte eine frische braunrote Schleifspur hinüber zum Abort. Vor dessen Eingang lag der dürre Körper des alten Klausners, in die Ecke geworfen wie ein Sack alter Kleider. Marike stürzte vorwärts. Hatte man ihn hierhergeschleift, um ihn in der Kloake zu entsorgen? Hatte sie den Täter gerade gestört? Sie warf sich neben Willems Körper auf die Knie und
Weitere Kostenlose Bücher