Das Mädchen und der Schwarze Tod
fremdartige Züge auf einen Wenden schließen ließen. Die beiden abgerissenen Gestalten erinnerten sie daran, dass meistens Verbrecher den Transport der Pesttoten übernahmen. Sie verdienten so einen Freispruch – wenn sie überlebten. Als der Karren an ihr vorbeifuhr, sah sie, dass auf seiner Fläche vier Körper lagen. Der Pestkarren fuhr mittlerweile von frühmorgens an durch die Stadt, damit der Pestkutscher und sein Gehilfe die Leichen aufsammeln konnten, die die Bewohner nachts auf die Straße legten. Marike schluckte schwer, als sie daran dachte, dass es Lyseke vielleicht auch bald so gehen würde, wenn Anton Oldesloe dies zuließe. Für einzelne Begräbnisse war schon lange weder Platz noch Zeit.
Marike umrundete den Pestkarren und lief weiter. Die Straße nördlich der Kirche war bis auf einige eilige Passanten leer. Wo war die Fiedlerin hin? Die Kaufmannstochter drehte sich um die eigene Achse und blickte sich ratlos um. So viel Vorsprung hatte die Frau doch gar nicht gehabt? Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Bei diesem Gedanken stellten sich Marike die Haare auf. Was, wenn die Fiedlerin eine Hexe war? Was, wenn sie teuflische Kräfte besaß und gerade von einem Dach aus arglistige Flüche auf sie niederschleuderte? Dann jedoch kam Marike ein Verdacht. Die Frau war schlau. Sie wusste, dass sich die Kaufmannstochter in Lübeck besser auskannte. Wo also konnte sie sich besser verstecken als an dem Ort, an dem man sie am wenigsten vermuten würde?
Entschlossen ging die Kaufmannstochter zu der winzigen Tür in die Nordervorhalle der Marienkirche, in der Notkes Bilder aufgestellt waren und an der die Kapelle der Oldesloes lag. Drinnen erwarteten sie der kühle Duft angemischter Farben und das unrhythmische Tuscheln vieler Stimmen. Obwohl an mindestens zwei Altären immer noch Andachten stattfanden, war die innige Stimmung der Messe mittlerweile verflogen. Die Leute waren wieder zu ihrer Betriebsamkeit zurückgekehrt. Hier in der Totentanzkapelle hielt sich außer Notkes jungem Knecht Sievert niemand auf. Der aufgeschossene, ungelenke junge Mann grüßte sie freundlich. Er dachte wohl, dass Notkes Freilassung ihr Werk gewesen war. Zwischen all den Farbeimern und Gefäßen, Mischhölzern, Hämmern und Nägeln konnte sich kaum jemand verstecken, es sei denn, die Frau war hinter die auf das Beichtgestühl aufgestellten Leinwände gekrochen. Marike zog fragend die Augenbrauen hoch und legte gleichzeitig einen Zeigefinger auf die Lippen, um Sievert zum Schweigen zu animieren. Dann formte sie mit den Händen die Proportionen einer Frau nach und spielte hinterher auf einer unsichtbaren Fidel. Der Bursche schien zu verstehen. Er machte eine bogenförmige Bewegung mit dem Zeigefinger, die Marike bedeutete, dass jemand links um die Oldesloekapelle herum verschwunden war. Sie nickte dem Knecht dankbar zu und schlug vorsichtig denselben Weg ein.
Marike spähte in die leere Oldesloekapelle und vermutete dann, dass die Frau des Krachs wegen nicht die Treppe zum Lettner hochgepoltert war. Blieben die Gerwekammer und die Gallinkapelle, die im Osten an die Beichtkapelle angrenzten. Die erste Holztür war verschlossen, da dahinter die Messgewänder und Altargeräte von Sankt Marien aufbewahrt wurden. Die Tür der Gallinkapelle kurz vor dem Darsow-Altar mit der schönen Madonna ließ sich jedoch öffnen.
Marike schob leise und vorsichtig die kleine Tür mit dem vergitterten Guckloch auf. Dahinter war es recht düster, sodass sie einen Augenblick brauchte, um sich hier umsehen zu können. Der Gallinsche Altar war gen Osten gerichtet, an den Wänden befand sich altes Holzgestühl. Sie trat vorsichtig hinein und blickte sich um, bis sie feststellen konnte, dass hier auf Balken eine Zwischendecke eingezogen war. Noch als sie sich nach einer Stiege oder Treppe umsah, hörte sie es hinter sich rascheln.
»Heda! Halt!«, rief die Kaufmannstochter, als sie eine Bewegung wahrnahm. Sie sprang zurück und griff zu. Sie erwischte ein Stück Stoff, das mit einem hässlichen Geräusch riss. Sie hatte den Griff am Ärmel und zog die Fiedlerin daran zurück in die Kapelle. Doch die Schaustellerin war stark und wehrte sich mit Krallenfingern. Als sie Marike mit einem Tritt am Schienbein erwischte, ließ die los. Die Frau starrte sie mit ihren wütenden Vogelaugen an. »Lass mich in Ruhe!«, fauchte sie und wollte sich schon abwenden. Mutlos erkannte Marike, dass sie körperlich keine Chance hatte. Doch vielleicht brauchte sie das gar
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