Das Mädchen und der Schwarze Tod
Missverständnisse der schlimmsten Art erzeugen …
»Ja, dumm das«, wiederholte der jüngere Sprecher. »Die Leute sterben wie die Fliegen, und das nicht nur an der Pest. Habt Ihr von dem Brand bei Sankt Katharinen gehört, Herr? Dort hat es die Werkstatt von Zimmermann Hartmann erwischt. Er ist wohl drin verbrannt.«
»Ah«, machte der Ältere wenig interessiert. »Scheußliche Art zu sterben.« Marike ärgerte sich, dass der Tod eines so lieben und wichtigen Mannes, wie Pater Martin es war, zu einer beiläufigen Episode gemacht wurde. Da horchte sie auf. Klangen die Schritte ferner? Ja, die Schritte entfernten sich von der Gallinkapelle. Erleichtert atmete sie aus.
Als sie sich umdrehte, zog Anna sich gerade wieder das Kleid zurecht. Der Ausschnitt war bereits ohne den zerrissenen Ärmel groß genug, nun hielt das Gewand kaum mehr am Leib. Zwischen den Ansätzen ihrer Brüste kam ein Holzamulett zum Vorschein, das an dem Lederband um ihren Hals hing. Nein, es wäre nicht gut gewesen, wenn man Marike mit der halb nackten Frau in der fremden Kapelle erwischt hätte!
Sie konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Also, Anna, was hat der Pfeifer mit den Morden zu tun? Hast du ihn mal mit einem großen und bulligen Ratsherrn gesehen? Oder … hat es etwas mit seinem schwarzen Hautbild zu tun? Mit diesem Dämon?«
»Dämon?«, fragte die Hure gelassen. Sie zupfte sich mit der Rechten den Ausschnitt höher.
»Ja, er trägt ein schwarzes Bild auf der Haut, das aussieht wie ein gehörnter Mann mit Bart und Schlangenleib. Grässlich anzuschauen. Wohl das Abbild eines Dämons. Du musst es doch schon mal gesehen haben, immerhin trägt er das Hemd ziemlich offen.«
»Ah, ja, ich glaube, ich erinnere mich«, antwortete die Hure und griff nach ihrem Amulett. Marike trat näher heran und schnappte nach ihrer Hand, die das Holzstück umklammerte, das ihr um den Hals hing und das bislang von dem Kleid halb verborgen worden war.
Die Kaufmannstochter beschlich ein übler Verdacht. »Zeig her!«, stieß sie hervor, als sie versuchte, die Hand der Frau aufzuhebeln. »Los, zeig her!« Anna wehrte sich nach Kräften, doch Marike zog mit der anderen Hand einfach das Lederband über deren Kopf, sodass sie mehr Spielraum hatte, und riss daran.
In ihrer Hand lag ein flaches Stück Eichenholz, das größer war als ihr Handteller. Die Rückseite wies nach oben und zeigte einige dreckige Einkerbungen, die auch Zeichen sein konnten. Vielleicht waren das wendische Schriftzeichen? Im Zwielicht der Kapelle drehte sie die Scheibe um. Die Hure versuchte, ihr das Amulett wegzuschnappen, doch Marike zog die Hand rechtzeitig zurück. Sie drohte der Frau mit dem anderen Zeigefinger. »Bleib ja, wo du bist. Ich kann immer noch schreien.« Dann betrachtete sie die Holzscheibe.
Sie hätte sie beinahe fallen gelassen. Von dem Holz blickte ihr dieselbe Kreatur entgegen, die sie erst auf dem Hautbild des Pfeifers, dann auf dem Holztafelbuch in Oldesloes Haus gesehen hatte. Natürlich war jedes Bild in unterschiedlichem Stil gehalten und mehr oder weniger kunstvoll gearbeitet. Da gab es Unterschiede in Form, Länge und Breite der Hörner, und natürlich war auch auf keinem Bild der Bart und der Schlangenleib exakt so geformt und geschwungen wie auf einem anderen. Doch es handelte sich unverkennbar um dieselbe unheilige Kreatur, die Marike bereits zweimal gesehen hatte.
»Du also auch«, stammelte sie entsetzt.
»Ich also auch was?«
»Du gehörst auch zu diesem Bund unheiliger Dämonenanbeter! Hat der Pfeifer den Lynow und den Oldesloe damit verhext?« Marike wich einen Schritt zurück, das Amulett auf der Hand ausgestreckt, als sei es ein Stück Kohle, das ihr die Hand verbrennen könnte.
»Ich gehöre keinem Bund an, Mädchen, versteh das doch! Ich höre jetzt zum ersten Mal davon. Und Veles«, sie deutete auf das Amulett, »ist auch kein Dämon.«
»Was ist es dann?«
»Ein Gott.«
»Wo ist denn da der Unterschied? Ob Dämon oder Götze, er sieht aus wie der Teufel!«
»Woran das wohl liegen mag?«, schnaubte Anna abfällig. »Gegner wird man los, indem man sie zum Ungeheuer erklärt.«
Marike wusste nicht genau, was die Hure damit meinte, doch sie beschloss, diesen Lügen zuzuhören, auch wenn sie sie nicht glauben würde. »Was ist das für ein Gott? Will er Menschenopfer?«
»Ja, genau«, meinte die Hure. »Und Kinder fressen wir auch.« Marike schauderte trotz des ironischen Untertons. »Über so was macht man keine
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