Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
großen Blutlache. Die Schatten an den Wänden begannen zu tanzen: Notkes Hand mit der Laterne zitterte.
    Als der Maler dem Gesellen schließlich die Augen schloss, wusste er nicht, wie lange er so neben dem Leichnam gehockt hatte. Er besaß kein Gefühl mehr für die Zeit. Doch inzwischen tobte das Gewitter draußen direkt über der Stadt. Der Maler zwang sich, die Laterne wieder aufzunehmen und den toten Körper zu untersuchen, denn er musste herausfinden, ob Sievert in den Totentanz gehörte. Er atmete ein paarmal durch, bevor er unter dem zuckenden Spiel von Licht und Schatten des Gewitters in Sieverts Gesicht leuchtete.
    Auf der Stirn des Toten fand er den Splitter, der die Opfer der Bruderschaft des heiligen Blasius markierte, und über den Leib verteilt Erde und Staub. Als der Maler sich die Wunde unter dem Hemd näher ansah, fand er heraus, dass es sich dabei nur um einen winzigen Stich handelte, der genau über dem linken Brustkorb beim Herzen lag. Ein schmales spitzes Instrument, vielleicht ein langer Nagel, ließ sich aus nächster Nähe mühelos als Mordwerkzeug benutzen. Notke vermutete, dass Sievert keinen Verdacht gegen seinen Mörder gehegt hatte, denn Spuren eines Kampfes fand er keine.
    Schließlich stand Bernt Notke wieder auf. Sievert war gestorben, weil er selbst sich geweigert hatte, Gerald Samer zu töten. Nun war aus Rache für seinen Ungehorsam Sievert der Jüngling des Totentanzes. Jetzt lebten nur noch die Jung frau und das Kind, dann wären sämtliche dargestellten Figuren auch als lebendige Menschen gestorben. Und irgendetwas sagte ihm, dass sämtliche Morde vollbracht sein mussten, bis das Bild morgen der Ratskirche und ihrer Gemeinde übergeben und mit der Beichtkapelle neu geweiht werden würde.
    Grimmig stellte Notke fest, dass er recht behalten hatte – es gab einen dritten Mörder. Marike hatte sich geirrt. Wie wünschte er sich, sie hätte recht behalten! Marike! Bernt sprang auf und riss die Tür auf, dann rannte er hinaus in den Sturm. Dabei überschlugen sich seine Gedanken. Wer weiß, vielleicht hatte dieser Stich ihm gelten sollen, nicht Sievert? Wäre dann Marike Pertzeval die Jung frau, die für den Totentanz noch sterben sollte? Vater hin oder her – Notke musste sichergehen, dass es ihr gut ging. Dem Regen zum Trotz lief er die paar Häuser weiter und schlug an die Tür des Pertzevalhauses.
    Der lange Knecht, Hinrich, machte auf. »Darf Euch nich’ einlassen, Herr«, murmelte er.
    Doch Notke ignorierte ihn. Er stieß die Tür auf, stürmte in die Diele und rief: »Marike?« Er erhielt keine Antwort. In der Kemenate war niemand. Halb erwartete er, dass Johannes Pertzeval hustend aus der Dornse stürmen würde, um ihn zu verprügeln. Doch nach ein paar Augenblicken kam nur der Geselle des Mannes, der zur Nacht bereits bis aufs Hemd ausgekleidet war, mit gerunzelter Stirn die Treppe hinunter.
    »Marike?«, rief Notke wieder, stieß den protestierenden Mann beiseite und lief die Treppe hinauf. Die Kammer des Vaters war leer – und weiter oben die von Marike auch. Er sah sich wild auf den Speicherebenen um, lief wieder hinunter in den Hof, wo ihn schließlich der Geselle beschwor: »Herr, niemand ist hier. Die junge Herrin hat vorhin das Haus verlassen, und wir wissen nicht, wohin. Und der Herr – der Herr ist noch eher fortgegangen. Der Herrgott weiß, was die beiden umtreibt.« Der rundliche Geselle wies auf die Tür. »Wir dürfen Euch aber nicht einlassen, Herr. Herr Pertzeval hat’s verboten.«
    Bernt Notke nickte stumm und ging. Seine Gedanken überschlugen sich. War Marike verschleppt worden, um die Jung frau des Totentanzes zu werden? Oder hatte sie herausgefunden, wer das nächste Opfer war? Er stand auf der von Wind und Regenböen gepeitschten Straße und war schnell bis auf die Haut nass. Er fühlte sich, als sei er der einzige Mensch in der Stadt. Schließlich gestand er sich ein, dass er nicht mehr weiterwusste.
    Marike Pertzeval, seine Marike, war veschwunden. Er hatte keine Ahnung, wo er sie suchen sollte. Und das, wo in der Stadt noch ein Mörder frei herumschlich. Bernt Notke wendete das Gesicht gen Himmel und bat um ein Zeichen. Ein Blitz zuckte durch die Finsternis.

KAPITEL 16
    D ie Glocken vom nahen Kloster Sankt Johannis riefen um die neunte Stunde zum Komplet, als Marike wegen der länger werdenden Schatten eine brennende Kerze in eine Laterne stellte und diese sorgfältig auf der Wendeltreppe aufstellte. Die Luft lag so schwül und stickig über

Weitere Kostenlose Bücher