Das Mädchen und der Schwarze Tod
Rechnungsteppichen und Warenlisten gelegt, wo es einstauben und in Vergessenheit geraten würde.
Draußen rollte ein Donner, dieses Mal ganz nah. Von der Diele her hörte sie Stimmen und das Klappen der Haustür. Marike sah irritiert auf – die Sonne war doch schon längst untergegangen! Hatte der Vater jetzt noch einen Botengang für Frederik? Sie ging aus der Kemenate und schaute nach, wer da so spät noch das Haus verließ. Hinrich saß nun am Tisch und genehmigte sich einen Krug Bier – offenbar konnte er auch nicht schlafen. Seine Blicke schweiften zwischen Marike und der Tür hin und her. Irgendetwas hing im Raume, doch Marike konnte nicht fassen, was es war. Frederik kam gerade aus der Dornse und streckte sich zu einem Nachtgruß – der Mann hasste es, wenn man ihn allzu lang wach hielt.
»Wohin ist der Herr?«, fragte Marike Frederik.
Der Gehilfe lächelte freundlich. »Macht Euch keine Sorgen, junge Herrin. Nur ein kleiner Gang, aus der Not geboren, wie man so sagt.«
»Der Herr ist also weg?«, fragte sie leicht gereizt. Konnte der Mann eine Frage nicht einmal direkt beantworten?
»Er ist bald wieder da«, wiederholte Frederik, als wäre eine Erklärung nicht nötig.
»Wie bald? Und was für eine Not?«, fragte Marike, die sich zwingen musste, die Ruhe zu bewahren.
Frederik wirkte ganz verdaddert, dass seine Auskunft offenbar ungenügend gewesen war. »Not – ja, genau deshalb ist er hinaus. Es wird wichtig gewesen sein.«
»Natürlich – sonst wäre er ja nachts nicht noch einmal weg. Aber warum?« Doch das Gedruckse des Gehilfen machte nur eines deutlich – er wusste auch nicht, wo der Vater hin war.
»Der Herr wollte noch jemanden treffen, Herrin. Kein Grund zur Besorgnis.« Dabei lächelte der Geselle so tröstend, dass die Kaufmannstochter ihn am liebsten geschüttelt hätte, um ihm zu sagen, dass sie nicht in Sorge war.
»Danke«, erwiderte sie stattdessen kurz angebunden. »Schlaf gut.«
Marike tat so, als beschäftige sie sich mit den Vorräten. Als Frederik die Treppe hinauf verschwunden war, ließ sie davon ab, griff sich eine Kerze und ging in die Dornse des Vaters. Wie üblich lag hier alles an seinem festen Platz. Marike warf einen Blick auf das Spielfeld aus dunklem und hellem Holz, dem sie sich in den letzten Tagen kaum noch gewidmet hatte. Der Vater hatte bereits einen Zug gemacht, sodass sie am Spiel war. Doch sie hatte keine Geduld dafür. Sie wollte sich schon wieder abwenden, da zog sie erstaunt die Augenbrauen hoch. Ihren letzten Zug hatte sie gemacht, um die Königin nicht zu verlieren. Nun musste sie feststellen, dass das ein Fehler gewesen war. Der Vater hatte seine weiße Königin weit nach vorne gesetzt und zusammen mit dem Bischof ihren König so eingekeilt, dass Schwarz schah mat gesetzt war. Sie müsste den König ziehen, um ihn zu retten – doch sie konnte ihn nicht weit genug ziehen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Sie hatte das Spiel verloren. Marike lächelte fein. Offenbar hatte der Vater inzwischen verstanden, wie wertvoll eine Königin nach den neuen Regeln sein konnte! Sie legte ihren König auf die Seite, um zu zeigen, dass sie ihre Niederlage akzeptierte. Der Vater war schon immer der bessere Planer gewesen. Doch sie war nicht des Spiels wegen gekommen.
Sie sah sich auf dem Schreibpult um. Hier lag Notkes Bild nicht. Sie ließ die Finger über das Holz des Pultes gleiten, strich über eine frisch geglättete Wachstafel und folgte der Maserung der Mulde für … ja, wo war denn der Griffel? Der Vater legte sein liebstes Schreibwerkzeug, das die Form eines lang gezogenen Drachenkopfes besaß, stets in die für solche Zwecke geschaffene Mulde auf dem Schreibpult. Er lag sonst immer genau dort, denn der Vater hatte seine Gerätschaften gerne schnell zur Hand. Jetzt fehlte das gute Stück. Da Frederik die kostbare Schreibspitze kaum zu berühren wagte, musste sie auf den Boden gefallen sein. Doch auch auf den bemalten Fliesen ließ sie sich nicht finden. Der Vater würde sicher toben, wenn er das erführe!
Vor der Truhe, in der Marike das Bild von Notke vermutete, zögerte sie noch einmal. Sollte sie den Wünschen ihres Vaters wirklich zuwiderhandeln? Er hatte nicht gewollt, dass sie das Gemälde von Notke behielt. Doch er hatte ihr auch nicht ausdrücklich verboten, es zu betrachten. Also warf Marike einen Blick über die Schulter durch den nur von der Kerze erhellten Raum. Dann öffnete sie die Truhe, in der ihr Vater seine Bücher, Feinwaagen und
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