Das Mädchen und der Schwarze Tod
der Stadt, dass es kaum zu ertragen war. Die junge Frau hoffte, es würde heute Nacht regnen.
Marikes Vater hatte beschlossen, in der Kemenate zu nächtigen, um sich das mühsame Treppensteigen zu ersparen. Allein dass er diesen Wunsch ausgesprochen hatte, bereitete Marike Sorgen. Er jammerte sonst nie. Daher stellte sie die Laterne auf, um auch im Dunkeln die Stufen hinuntereilen zu können. In der Diele würde die Glut des Herdfeuers ausreichen müssen. Sie hätte dort auch ihr Lager aufgeschlagen, doch das hatte er verboten. »Wenigstens einer von uns beiden sollte ein bisschen Schlaf bekommen«, hatte er gesagt. Und schließlich begab Marike sich zu Bett.
Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ein oder zwei Stunden später – draußen war es längst dunkel – erhob sich Marike wieder. Spannung lag in der Luft, und ein Grollen rollte über den Himmel. Sie stand schlaftrunken auf, um die Bienenwachskerze zu erneuern, die beinahe heruntergebrannt war. Sie beschloss, auch das Feuer in der Diele in Gang zu halten, damit sie unten Licht hätte. Üblicherweise sorgte Alheyd für den Ofen, doch die Magd war fort. Nach den harten Worten in der Marienkirche war sie nicht mit nach Hause gekommen und seitdem auch nicht mehr aufgetaucht. Marike bedauerte den Streit. Alheyd hatte doch bloß Angst gehabt, um sich selbst und um Marike und ihren Vater! Sie hätte den Sorgen der Frau wenigstens Gehör schenken können. Doch nun war es zu spät. So überdrüssig sie der mürrischen Magd oftmals gewesen war – sie war ihr doch eine Vertraute gewesen, die sie nun bitter vermisste.
Ärgerlich schaufelte Marike einen Teil der Glut in eine Kohleschale und trug sie in die Kemenate, um auch dort ein wenig einzuheizen. Dem stets frierenden Vater täte die Hitze sicher gut, wenn das Gewitter für Abkühlung sorgte. Zu ihrem Erstaunen war die Kemenate leer, das Lager unbenutzt. Sie riss die Fenster auf, denn inzwischen konnte man die stickige Luft hier beinahe schneiden. Draußen hingegen frischte Wind auf. Das Gewitter war nahe. Marike genoss die Brise einen Moment lang mit geschlossenen Augen. Ein kühler Schauer würde der ganzen Stadt guttun und den immer schlimmer werdenden Gestank der Verwesung fortwaschen.
Marike starrte in die auch in diesem Kamin glimmende Glut. Sie musste bedrückt an die Begegnung mit Bernt Notke zurückdenken, die am gestrigen Morgen stattgefunden hatte. Seine flehentlichen Worte, die kurze Berührung seiner Finger und die Verehrung in seinen Augen wärmten sie am ganzen Körper.
Doch sie hatte recht daran getan, ihn abzuweisen. Sie war nicht mehr das dumme, verträumte Ding, in das er sich verliebt hatte. Sie erinnerte sich an die Gefühle von Rechtschaffenheit und Milde, die sie noch vor vierzehn Tagen so wild dazu gebracht hatten, Lynows Leben zu retten. Notkes Gemälde hatte das Mädchen von damals gezeigt. Nun schien der Quell, aus dem sie diese Gefühle geschöpft hatte, leer und eingetrocknet. Sie hatte geweint um das, was sie verloren hatte. So vieles war geschehen, was sie nicht verwinden konnte – die verlorenen Freunde, ihr Angriff auf Oldesloe, ihre Schuld an Lysekes Leiden. Sie musste Notke vor ihr, Marike, schützen, denn er blieb ihrem Herzen so nah. Wäre ihr Vater gestern nicht hereingekommen und hätte sie getrennt, Gott weiß, was geschehen wäre.
Schuldbewusst erinnerte sie sich an den Vater, der ihr das Bild weggeschnappt und Notke aus dem Haus geworfen hatte. Selbst den Rosenkranz hatte sie zurückgeben müssen. Dann hatte der Vater ihr verboten, Notke jemals wiederzusehen, damit sie beide endlich wieder Ruhe hätten und alles wie früher wäre. Sie seufzte. So war es immer gewesen, und vermutlich würde es auch immer so sein. Für ihren Vater galt kein Mann als gut genug für seine Tochter. Sie fragte sich, was an Bernt Notke wohl nicht akzeptabel sein könnte, doch ihr fiel nichts ein. Er hatte eine glänzende Zukunft vor sich, besaß Kunstfertigkeit, um die ihn noch Generationen beneiden würden, und bewies Geschäfts- und Verhandlungsgeschick. Der einzige Punkt, der wirklich gegen ihn sprach, war, dass er sie, Marike, liebte. Nein, falsch. Er liebte die Frau auf dem Bild, nicht sie. Er liebte einen Schatten ihrer Vergangenheit, den sie kaum noch wiedererkannte. Auch wenn der Vater das Recht besaß, den Mann des Hauses zu verweisen, ärgerte Marike sich doch darüber, dass er ihr nicht einmal dieses Bild gelassen hatte. Stattdessen hatte er es vermutlich in die Dornse zu
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