Das Mädchen und der Schwarze Tod
Rechenteppiche aufbewahrte. Sie musste auch gar nicht lange stöbern. Der Vater hatte das Bild aus dem Leinentuch genommen und stattdessen in einen alten Schal gehüllt.
Ein indirektes Leuchten und ein neuerlicher Donner kündigten an, dass das Gewitter beinahe über der Stadt war. Marike schlug das umhüllende Tuch auf. Nicht, dass sie sich selbst noch einmal in die Augen sehen mochte. Bernt Notke hatte vermutlich Stunden über dieser Leinwand gesessen, um ihr Konterfei abzubilden. Es zu berühren hieß, ihm nahe zu sein. Nun konnte sie die zarten Striche erkennen, mit denen er den Mund und die Augen hervorgehoben hatte. Sie stellte fest, dass das Blau ihrer Augen genau dem dunkleren des Kleides glich, und dass er ihr ein so feines Lächeln verliehen hatte, wie sie es vermutlich nur unbewusst trug. Schließlich entdeckte sie, dass dieses ihr Abbild auch den Rosenkranz trug, den Notke ihr geliehen hatte und den sie ihm erst gestern zurückgegeben hatte. Es war, als blickte Marike in einen perfekten Spiegel aus Kristallglas.
Sie lächelte bewegt. Dieses Bild war eine Liebeserklärung. Sie fuhr mit dem Finger über die unebenen Schichten der rauen Temperafarbe, die an den Augenbrauen aufgetragen war. Doch ihre Freude verwandelte sich in zärtliche Traurigkeit. Diese Liebe hatte keine Zukunft. Sie würde aus der Ferne zuschauen, wie Notke sich in eine andere Frau verliebte und mit ihr ein Leben aufbaute. Sie war überrascht, wie sehr der Gedanke sie schmerzte. Sorgfältig schlug sie das Bild wieder ein und legte es zurück.
Als Marike ihre Hand zurücknahm, fiel ihr in der Truhe eine dunkle Holzkante ins Auge, die unter einem Tuch hervorlugte. Ihr Herz klopfte, denn die Farbe des dunklen Holzes kam ihr vertraut vor. Sie nahm das Tuch weg und hatte den breiten Rücken eines Tafelbuches enthüllt. Widerstrebend streckte sie die Hand aus und zog an dem Buch, bis sie es schließlich in den Händen hielt. Es handelte sich um dunkle, beinahe schwarze Holztafeln, die durch Lederbänder durch Löcher an der langen Seite miteinander verbunden waren. Unwillig zu glauben, was dort vor ihrer Nase lag, schlug sie ein paar Tafeln hoch und schrak zusammen. Was sie dort sah, war der schlangenleibige Götze mit Bart und Hörnerschädel. Genau dieselbe Drehung der Hörner, derselbe Ausdruck in dem breiten Gesicht, dieselben angedeuteten Schuppen – es gab keinen Zweifel. Marike hielt dasselbe Buch in Händen, das sie damals bei Anton Oldesloe gesehen hatte. Sie setzte sich auf den Hocker und starrte auf das Bild des Veles, wie die Hure Anna ihn genannt hatte. Langsam sickerte die Bedeutung dieses Funds zu ihr durch. Was um Himmels willen hatte das Buch, das mittlerweile mehr als ein Dutzend Menschen in den Tod getrieben hatte, in der Truhe ihres Vaters zu suchen? Bestimmt gab es eine ganz einfache Erklärung dafür.
Marike legte das Holztafelbuch vorsichtig auf das Lesepult und sah sich weiter in der Truhe um. Dort sah sie auch die aus Bronze gearbeitete liegende Kuh, die der Vater vor zwei Wochen betrachtet hatte. Daneben steckten Zettel, teils aus Pergament, teils aus Papier, auf denen sich Zeichen fanden, die denen in dem Holzbuch ganz ähnlich waren. Marike nahm sich einen der Zettel hervor und klappte ein paar der Tafeln um. Sie fand tatsächlich eine, auf der dieselben Zeichen zu finden waren wie auf dem Stück Pergament in ihrer Hand. Daneben fand sie lateinische Worte geschrieben – offenbar eine Art Übersetzung. Es war von einem Kampf die Rede, und von Blitz und Donner, von der Schlange und von der Unterwelt … Das klang wie die Legende, die die Fiedlerin ihr erzählt hatte. Den Großteil der Schrift dieser Übersetzungen kannte sie nicht, die meisten Buchstaben waren zu fein für die auf Pergament so ungelenke Hand ihres Vaters. Dann stieß sie auf einen Zettel, dessen krakelige Lettern unverkennbar von der Hand Johannes Pertzevals stammten. Dabei handelte es sich offenbar um eine Art Merkzettel, auf dem manche der Zeichenabfolgen mit lateinischen Wörtern gleichgesetzt waren. Marike ließ die Papiere verständnislos sinken.
Draußen warnten ein paar erste prasselnde Tropfen auf der Straße vor dem bevorstehenden Unwetter. Augenblicke später brachen die Wolken auf und entließen ihre aufgestaute Fracht über der Stadt. Doch die trockene Erde wies das Wasser ab, das sich schnell zu kleinen Rinnsalen sammelte und die Straßen hinunter zu den beiden Flüssen ergoss. Der Himmel hatte sich aufgetan.
Drinnen im Haus
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