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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Balken des Gerüstes ab. Das Totentanzgemälde hing zumindest provisorisch dort, wo es hin sollte, nämlich direkt über der oberen Kante des Beichtgestühls. Bernt Notke schritt das Bild noch einmal ab. Es war nicht nur an der Wand aufgehängt worden. Teile davon, nämlich der Anfang mit dem Flöte spielenden Tod vor dem Papst und das Ende mit den Figuren des Jünglings, der Jung frau und des Wiegenkinds, waren um die beiden einander gegenüberliegenden Pfeiler herumgebaut worden, durch die man in die Kapelle trat. So waren Anfang und Ende des Totentanzes einander zugewandt. Der Kartäuser und sein Tod hatten sogar um den unregelmäßig geformten Wanddienst an der Nordwand herumgelegt werden müssen, als würde man einen Pfeiler mit Sackleinen benageln.
    »Ich mach mich dann auf, Herr!« Sievert schob sich von oben bis unten mit Eimern und Werkzeugen behängt durch die Nordertür der Kapelle hindurch. Ohne ihn hätte Notke das alles nicht mehr rechtzeitig geschafft. Sie hatten beinahe die ganze Nacht und diesen Tag durchgearbeitet und waren nun beide mit ihren Kräften am Ende.
    »Geh nur. Ich komme auch gleich«, erwiderte Notke mechanisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es wurde Zeit, dass sich diese Schwüle abregnete.
    Notke warf einen skeptischen Blick auf die einsame Oldesloekapelle. An dem Pfeiler daneben waren die Figuren vom Klausner bis zum Kind angebracht. Er erinnerte sich an die Altaraufbauten, die in der Kapelle gestanden hatten, als man ihn in die Bruderschaft des heiligen Blasius eingeweiht hatte. Er hatte durch die Türspalte nichts mehr davon entdecken können – vermutlich wurden sie nur aufgebaut, wenn man sie brauchte. Er hoffte, dass Marike mit ihrer Einschätzung der Situation recht behalten würde und Oldesloes Tod dem bösen Spuk in der Stadt ein Ende gesetzt hatte. Wenn sie sich irrte, würde vermutlich trotz Notkes Weigerung, jemandem ans Leben zu gehen, just in dieser Nacht ein junger Mann sterben. Er würde mit einem Holzsplitter diesem unheiligen Götzen geweiht werden und Teil dieses makabren, lebensechten Totentanzes aus Lübecker Ständevertretern werden.
    Notke schüttelte diesen Gedanken ab. Wie immer das enden mochte, er selbst hatte bereits das Kostbarste verloren, das er besaß. Zwar hatte er ganz zum Schluss, als ihre beiden Hände sich über dem Paternoster berührt hatten, gespürt, dass Marikes Gefühle für ihn noch nicht gestorben waren. Doch Johannes Pertzeval hatte ihm sehr deutlich gemacht, dass er ihn nie wieder in seinem Hause sehen wollte. Die einzige Möglichkeit, Marike zu gewinnen, wäre nun, mit ihr davonzulaufen. Aber so etwas könnte er keiner tugendhaften Frau antun. Und auch ernähren könnte er sie nicht mehr, denn seine Karriere wäre dann beendet. Doch ohne sie ging er durch sein Leben wie ein Schlafwandler.
    Ein letzter Blick durch die Beichtkapelle mit seinem Bild zeigte ihm, dass alles an Ort und Stelle war. Die Eimer und Lappen waren ausgeräumt, die Holzsplitter und Späne zusammengefegt, sogar die gröbsten Kleckse und Flecken waren vom Fußboden entfernt worden. Morgen, zu Mariä Himmelfahrt, würde Lübeck seine Beichtkapelle zurückbekommen. Und was für eine Beichtkapelle das war! Notke war selbst ganz beeindruckt von seinem Bild, das ihm von über Kopfhöhe beinahe in Lebensgröße anstarrte. Jetzt, nach den Erlebnissen der letzten Tage, fiel Notke schon wieder ins Auge, was er alles verändern würde. Ein krönender Baldachin wäre vielleicht noch passend. Mit den meisten Gesichtern war er eigentlich zufrieden – die kontrastreichen Farben verliehen ihnen etwas Krasses, ja Groteskes. Nur Klausner, Jüngling, Jung frau und Kind besaßen diese Qualität noch nicht, denn sie hatte er gestern und heute nicht mehr überarbeiten können. Zwar hatte er das Gesicht des alten Willem noch im Kopf, doch die ölreiche Eitempera, die den Vorteil hatte, dass man sie noch lange nachbearbeiten und mischen konnte, wäre heute sicher nicht mehr trocken geworden. Er seufzte. Vielleicht ließ sich ja nach der Übergabe an die Stadt noch die eine oder andere Verbesserung durchführen. Halb verfluchte er die merkwürdige Besessenheit, die ihn ergriff, wenn er an dem Totentanz malte. Nicht einmal die Aussicht, dass sein Gemälde etwas mit den Sterbenden zu tun hatte, die er malte, konnte ihn davon abhalten, ihre Gesichter so treffend und verzweifelt wie möglich wiederzugeben. Wenn das Malen der Toten ihn erfasste wie ein Rausch, fürchtete er stets,

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