Das Mädchen und der Schwarze Tod
und ging hinein. Im Innern war es stockfinster, denn sämtliche Fenster waren versperrt. Doch dieses Haus sah auch nicht viel anders aus als das ihres Vaters. Sie ging vorsichtig durch die Diele in die Kemenate, stolperte dort kraftlos über ein Stoffbündel, bis sie schließlich die Fenster erreicht hatte und die Läden aufstieß. Draußen hatte es sich eingeregnet, sodass frische Luft die Kammer erfüllte. Glücklicherweise schien der Mond in dieser Nacht so hell, dass er sogar ein paar Strahlen durch die dichte Wolkendecke hindurch auf den Mosaikboden der Kammer werfen konnte. Das Licht der Sterne sah sie nicht.
In der schwachen Beleuchtung schaute Marike sich um. Die Einrichtung erinnerte sie erschreckend an daheim. Es fanden sich ein kleiner Tisch, eine beschnitzte Bank, ein Kamin mit bunten Kacheln darüber. Auf dem Tisch stand sogar noch Geschirr mit Essensresten, als seien die Menschen in diesem Hause von einem Moment auf den anderen verschwunden. Sie fror und griff sich ein paar Decken vom Boden. Dann entzündete sie ein kleines Feuer im Kamin, um ihre Sachen trocknen zu können. Sie zog ihr Kleid aus – das feinste, das sie von ihrer Mutter noch hatte – und breitete es sorgfältig über der Bank zum Trocknen aus. Schließlich legte sie die gefundenen Decken auf den Boden vor die Feuerstelle und rollte sich darin zusammen. Eine Weile noch starrte sie auf die gegenüberliegende Wand. Daran prangte das Bild der Madonna, die die Menschen unter einem gleißenden Mantel der Heiligkeit schützte. Marike wünschte sich, dass es so einfach wäre.
Ihre Lage war schrecklich. Sie hatte kein Heim, nichts zu essen, kein Geld und keinen Weg, wie sie sich welches beschaffen könnte. Sie würde betteln oder huren müssen, wenn sie sich ernähren wollte. Oder sie könnte einfach hier liegen bleiben und an Hunger und Durst sterben – oder möglicherweise an der Pest, die noch in diesen Mauern steckte. Eines nur würde Marike nicht tun: in das Haus ihres Vaters zurückkehren. Schließlich schloss sie die Augen und dämmerte vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf hinüber.
Spät in der Nacht schreckte Marike hoch und lauschte in die Dunkelheit. Das Feuer im Kamin war beinahe niedergebrannt und spendete kaum Helligkeit. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte, doch ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Für einen Augenblick wusste sie nicht einmal, wo sie war, denn alles um sie herum war fremd und einsam. Dann kehrte die Erinnerung zurück, und mit ihr kam der Schmerz. Draußen tobten noch immer Regen und Wind. Das Gewitter war direkt über der Stadt. Sie erhob sich, schaute aus dem Fenster und ahnte, dass ein Donnergrollen sie wohl geweckt haben musste. Oder lauerte dort draußen etwas? Der nächtliche Hof lag dunkel und bedrohlich vor ihr.
Marike überlief ein Schaudern. Sie schloss schnell die Fenster mit den Butzenglasscheiben, um Wind, Regen und Dunkelheit auszusperren. Dann kniete sie sich vor das Feuer und entzündete einen kleinen Span, um damit eine Kerze auf dem Tisch zu entflammen. Wie schrak sie zurück, als sie dahinter in der Ecke eine Gestalt lehnen sah! Zunächst dachte sie, dort läge eine alte Pestleiche, die sie übersehen hatte, oder ein anderer Hausierer, der sich hier ein trockenes Quartier gesucht hatte.
»Ich wollte Euch nicht wecken«, erklang die Stimme Bernt Notkes. Er wickelte sich aus seinen Decken heraus, stand auf und trat in das Kerzenlicht. »Ich wollte Euch aber auch nicht erschrecken.«
»Wie habt Ihr mich gefunden?«
»Ich hatte Hilfe.« Der Mann stand patschnass da, bedeckt von Schlamm und Blut. Doch mehr noch ängstigte Marike sein Gesicht – es wirkte grimmig und finster. Sie vermutete, dass er geweint hatte, denn seine Augen waren gerötet. Doch ging es ihr anders? Schlimme Erinnerungen trennten sie beide.
»Was ist geschehen, Bernt?«, fragte sie leise.
»Sievert«, erwiderte er düster.
Ihr Herz stockte. »Der Jüngling vom Totentanz?« Er nickte nur.
Marike wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie erinnerte sich an die unzeremonielle Weise, wie ihr Vater nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus verschwunden war, als er sie bereits im Bett glaubte. Die Erkenntnis, dass er gegangen war, um einen Mord zu begehen – schlimmer noch, um Notkes Gehilfen zu töten -, traf sie ins Mark. Sie schwankte und stützte sich am Kamin ab.
»Es tut mir leid«, murmelte sie dann gepresst. »Es tut mir so leid!«
Notke sprang ihr ernüchtert zur Seite und murmelte: »Es ist doch
Weitere Kostenlose Bücher