Das Mädchen und der Schwarze Tod
starrte Marike auf ihre Fundstücke. Es gab bestimmt eine ganz einfache Erklärung dafür, wie diese Dinge in die Hände ihres Vaters gelangt waren. Vielleicht hatte Oldesloe das Buch dem unwissenden Vater zur Aufbewahrung gegeben. Oder Johannes Pertzeval war dem Handelspartner ebenfalls auf die Schliche gekommen und hatte das Buch als Beleg für dessen Untaten gesichert. Doch nichts erklärte, warum er selbst die Übersetzungen für einen Text aus dem Buch angefertigt haben sollte …
Die Wahrheit drang nur langsam zu Marike vor. Dies war kein Missverständnis. Die Tafeln lagen nicht aus Zufall in der Truhe ihres Vaters. Auch die Übersetzungen und die Schmuckstücke hatten sich nicht hierher verirrt. Im Gegenteil. Das alte Grab, das Oldesloe und ihr Vater auf dem Bauplatz des neuen Holstentores entdeckt hatten, musste dieses alte wendische Artefakt zutage gefördert haben. Und wenn ihr Vater an der Übersetzung des Buches gearbeitet hatte … Ihre Hand ballte sich mit den Schriftstücken darin zu einer Faust. Sie betrachtete das Holzbuch erneut. Der Rand war uneben und scharfkantig. Eine Seite sah aus, als hätte man dort jüngst Splitter abgeschabt, Splitter, deren Form und Größe die junge Frau nur allzu gut kannte...
Marike sprang auf. Ihr Kopf war leer. Sie konnte diesen letzten, logischen Gedanken nicht fassen. Ihr Vater hatte sie doch erst vor Lynow gewarnt, hatte sie gebeten, sich von ihm fernzuhalten! Warum hätte er das tun sollen, wenn er doch mit Lynow und dem bulligen Ratsherrn Oldesloe unter einer Decke steckte? Doch für alle offenen Fragen gab es auch eine logische Erklärung. Die beiden Verbündeten hatten vorgehabt, Marike schnell an jemanden aus der Bruderschaft zu verheiraten und den Vater aus dem Weg zu schaffen. Sie selbst wäre wohl wenig später gefolgt. Ihre Nachforschungen hatten diesen Plan sicher noch dringlicher gemacht. Doch niemand hatte ihr etwas getan, weil jemand die Hand über sie gehalten hatte. Dieser Jemand war ihr Vater gewesen, der den Verrat der beiden vorausgeahnt haben musste.
Ihr Vater hatte … ihr Vater war … Die Kaufmannstochter presste sich die Fäuste vor die Augen, bis sie Sterne sah. Schließlich entspannte sie sich und ließ den schrecklichen Gedanken zu. Ihr Vater hatte die Bluttaten an all den Menschen mit durchgeführt. Vielleicht hatte er sie sogar geplant, denn Oldesloe, der am liebsten alles mit Kraft kurz und klein hieb, war kein Mann langfristiger Sorgfalt. Ihr Vater hingegen war ein Genie, wenn es darum ging, immer drei Züge im Voraus zu planen. Johannes Pertzeval war die Spinne im Netz, die in dem Gesamtbild noch gefehlt hatte. Er trug die Schuld am Tod von Bruder Martin und all den anderen Menschen.
Die eine Hand immer noch vor die Augen gepresst, sprang Marike auf, bahnte sich mit der anderen den Weg aus der Dornse und lief hinaus auf die Straße, wo der Regen nun wie aus Kübeln niederrauschte. Sie hörte Hinrichs Rufe hinter sich kaum, an ihr Ohr drang nur das Prasseln des Regens. In ihrem Geist bewegte sich ein einziger Gedanke. Ihr Vater war ein Mörder, ein verschlagener, hinterlistiger, ruchloser Mörder. Er hatte die liebsten Menschen im Umfeld seiner Tochter auf dem Gewissen. Marike war in wenigen Augenblicken klatschnass. Doch sie rannte, rannte weiter, rannte blind durch die leeren nächtlichen Straßen. Sie rannte, bis ihre Lungen brannten und die Beine nachgaben. Dann brach sie schluchzend in einer Ecke zusammen. In ihr war etwas zerbrochen, das sich nie wieder kitten lassen würde.
Schließlich, sie wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, hörten die Krämpfe auf, ihren Körper durchzuschütteln. Sie blieb liegen und beobachtete das Wasser, das sich um sie herum seinen Weg durch das Kopfsteinpflaster bahnte und Staub und Dreck mit sich fortschwemmte. Ihr Kopf war leer. Sie konnte nicht zurück in das Haus ihres Vaters. Allein der Gedanke an ihn verursachte ihr Übelkeit. Sie fühlte sich dreckig, als sei sie an seinen Verbrechen mit schuld.
Marike raffte sich auf. Ihr Kleid war völlig durchweicht, die Säume und Überärmel dunkel vor Schmutz. Doch das scherte sie nicht mehr. Sie wankte voran, obwohl sie den Teil von Lübeck nicht erkannte, in dem sie sich befand. Alles erschien ihr fremd und dunkel. Irgendwann stand sie vor einem hastig vernagelten Backsteinhaus, bei dem offenbar Plünderer die Bretter, die die beiden Türflügel versperren sollten, aufgebrochen hatten. Die Tür stand leicht offen.
Marike schob sie auf
Weitere Kostenlose Bücher