Das Mädchen und der Schwarze Tod
herum. »Marike! Gott sei Dank!« Sie ließ den Mann los, drängte sich zu Marike durch und nahm sie in den Arm. »Es geht dir gut! Ich dachte schon …«
»Schon gut, Lyseke. Aber was macht ihr denn nur?« Sie erinnerte sich an ihr Tuch, doch das schien in dem Durcheinander verloren gegangen zu sein.
»Lynow hat um sich geschlagen wie ein Besessener«, berichtete Lyseke hastig. »Erst hat er dich gegen die Mauer gestoßen, mir den Arm ins Gesicht gerammt und ist dann auf die Leute losgegangen, die uns zu Hilfe gesprungen sind.« Die Augen der Jüngeren sprühten vor Zorn und Erregung. »Spätestens als der Feuerschlucker eingegriffen hat, war’s aus. Wer weiß, was in den Lynow gefahren ist … Er hat sich benommen wie toll!«
»Lyseke, siehst du denn nicht?« Marike wies mit der Hand in Richtung der zornigen Menge. »Hier benehmen sich alle wie die Tollwütigen!«
Mittlerweile zurrte der Feuerschlucker Drakonor das Seil über den Ast und zog kräftig daran, sodass der Schmied trotz seines Gewichtes für einen Augenblick den Boden unter den Füßen verlor. Die Kaufmannstochter empfand keine sonderliche Sympathie für den betrunkenen Schmied, der sich seine Situation zu großen Teilen selbst zuzuschreiben hatte. Doch bei einer solchen Tat konnte sie nicht untätig zusehen.
Marike drängte sich vor und riss Drakonor am Arm. »Lasst den Mann los! Ihr könnt ihn doch nicht einfach hängen!«
»Natürlich könn’ wir das!«, grölte er laut. »Wirst schon sehen!« Der Mann stank nach Schweiß und Lampenöl, als er sich neuerlich in das Seil stemmte und den röchelnden Schmied ein Stückchen anhob.
»Lasst ab, Mann!«, befahl Marike verzweifelt und zerrte wieder an ihm. »Das dürft ihr nicht!« Sie sah sich Hilfe suchend nach Notke um, der untätig auf der anderen Seite stand und abwechselnd von ihr zu Lynow und zu den Fahrenden schaute. Auch die Hure stand nahebei und griff sich nun einen der rudernden Arme des Schmiedes.
Rücksichtslos bahnte sich Marike einen Weg zu ihr und zerrte sie von dem Schmied weg. »Weib, tu doch was, ihr könnt den Lynow doch nicht einfach hängen! Der Herr sagt: Du sollst nicht töten!« Der Schmied röchelte nach Luft, mit der nun frei gewordenen Hand nach der Schlinge um seinen Hals greifend.
»Komm mir nicht mit der Bibel!«, zischte die Frau ärgerlich und schüttelte Marike ab. »Er hat uns angegriffen! Auf unserem eigenen Grund und Boden! Und dich doch auch! Die Bibel sagt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Also reg dich nicht auf!«
»Wenn ihr schon keine Sorgen um eure Seelen habt, dann sorgt euch doch wenigstens um seine! Soll er so dem Richter gegenübertreten? Ohne Beichte und Sündenfreisprechung? So etwas kann man doch keinem Christenmenschen antun!«
»Frag mal die braven Bürger dieser Stadt, wenn sie einen der Unseren richten, ob sie unser Seelenheil respektieren!«, meinte die Hure bitter. Ihre Vogelaugen funkelten.
Marikes Gedanken überschlugen sich. Was konnte sie tun? Wie die Leute überzeugen? Der Maler stand mit vor Zorn blitzenden Augen neben ihr.
»Bitte«, flüsterte sie ihm zu. Der harte Ausdruck auf seinen Zügen schmolz. Er nickte.
Marike atmete erleichtert auf. Gemeinsam drängten sie sich nach vorne durch. »Lasst den Strick los«, bat Marike. »Ihn zu töten hetzt euch den Fron und seine Leute auf den Hals!«
»Nicht, wenn er inner Trave schwimmt und niemand sein Maul aufreißt«, grunzte der Feuerspucker großspurig.
Marike schüttelte den Kopf, während der Schmied auf den Spitzen seiner Trippen balancierend an der straffen Leine zappelte. Sie starrte erst ihn, dann den Feuerschlucker an. »Mann, siehst du denn nicht? Niemand auf dieser Erde ist so unschuldig, dass er über jemand anderen urteilen könnte. Das kann allein Gott. Wer sagt uns denn, dass sein Ende gekommen ist?« Drakonor wich ihrem Blick aus und sah hinüber zu seinen Kumpanen, die ihm aufmunternd zujohlten.
»Aber warum?«, grunzte der Mann entnervt. »Er hat’s Baumeln verdient!«
Marike barg hilflos das Gesicht in den Händen. Diese Leute wollten weder Sinn noch Verstand gelten lassen, während dem Schmied bereits die Adern auf der Stirn hervortraten. Notke trat ein, zwei Schritte vor, um dem Feuerschlucker zu zeigen, dass er notfalls eingreifen würde, doch Marike wusste, dass sie verloren hatten. Sich mit den Schaustellern anzulegen würde blutig enden.
»Herunter mit ihm!«, schnitt eine raue Stimme dazwischen. Der Flötenspieler trat zu dem Grüppchen. Marike hatte sich
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