Das Mädchen und der Schwarze Tod
Griff um ihr Handgelenk. Sie fuhr herum und schaute in Lynows Gesicht. Der Mann stank nach Schweiß und Schnaps. Ihre Hand fuhr zum Rosenkranz.
»Hab ich dich!«, sagte er schleppend. »Du schnüffelst doch schon den ganzen Abend hinter mir her. Wollen doch mal schauen, woher ich dich kenne, Dirne!« Er legte die andere Hand an ihr Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. Marike stemmte sich mit ganzer Kraft gegen seinen Griff und versuchte, den Kopf wegzuziehen.
»Lass los!«, rief Marike laut, und Bernt Notke fuhr herum. Als er begriff, was vor sich ging, sprang er dem Schmied an den Arm. Die Männer rangen miteinander, bis Lynow eine abrupte Bewegung machte, um die Kaufmannstochter herumzuziehen. Dabei rutschte ihm ihre Hand durch die schweißnassen Finger. Marike verlor das Gleichgewicht. Sie sah den Balken einer nahen Fachwerkbude auf sich zukommen und wusste, dass sie ihm nicht mehr ausweichen konnte. Dann zuckte auch schon ein heller Blitz vor ihren Augen auf, und sie sackte kraftlos in sich zusammen.
Sämtliche Geräusche schienen in weite Ferne zu rücken und klangen nur gedämpft an ihre Ohren. Eine angenehme Kühle legte sich über Marikes Gesicht. Schließlich näherten sich die Stimmen wieder – sie gellten erregt und zornig in ihren Ohren -, und die Helligkeit wich langsam. Marike blinzelte benommen, um etwas zu sehen. Was war geschehen? Vor Marike kniete Bernt Notke mit besorgtem Gesicht.
»Geht es Euch gut?«, fragte Notke hilfsbereit und strich über ihre Wange.
»Was …«, murmelte Marike und stellte fest, dass ihre Zunge ihr noch nicht so recht gehorchen wollte.
»Ich schätze schon«, beantwortete Notke seine Frage daraufhin selbst und lächelte erleichtert.
»Was … ist passiert?«, brachte Marike endlich heraus.
»Der Hundskerl hat Euch gegen die Wand geschleudert. Ich bin so froh, dass Ihr wieder wach seid. Ich hätte mir nie verzeihen können wenn …«, er fuhr sich fahrig durch das Haar und verstummte.
»Wie lange …«
»Nur ein paar lange Augenblicke, Jungfer Marike.«
Sie bewegte den Kopf und sah sich vorsichtig um. »Wo ist er?«
Notke deutete mit dem Kopf nach hinten, wo eine rangelnde Gruppe zu sehen war. Einige Männer und Frauen hielten den Schmied Lynow fest. Der schimpfte und fluchte, während Lyseke, die Fiedlerin, der Feuerschlucker und einige andere Schausteller zornig auf ihn einbrüllten.
»Du hast sie angegriffen, Mistkerl!«, drang Lysekes Stimme gerade schrill herüber.
»Dafür wirst du zahlen!«, grollte der Feuerschlucker Drakonor, aufgepeitscht von der keifenden Hure Anna.
»Liefert mich doch dem Fron aus«, höhnte Meister Lynow betrunken. »Wir werden ja sehen, wem sie mehr Glauben schenken – einer Bande unehrlicher Landstreicher oder einem zünftigen Handwerksmeister! Vielleicht findet ihr ja noch einen Ziegenbock als Leumund!«
Marikes Gehirn funktionierte noch zu langsam, um all dem folgen zu können, doch sie versuchte, sich wieder aufzurichten. »Seid Ihr sicher?«, fragte Notke. Als sie nickte, stützte er sie unter dem Arm. Marike hatte endlich sicheren Stand, da spürte sie Bernts Nähe. Ihre Blicke trafen sich, und sie kämpfte erfolgreich gegen das Bedürfnis an, sich einfach an seine Brust zu lehnen und die Augen zu schließen.
Marike sah sich nach Lyseke und Lynow um. Gerade war man im Begriff, den Mann fortzuzerren. Jemand legte ihm eine Schlinge um den Hals.
»Was machen die da?«
Notkes Blick wurde hart. »Nichts, was er nicht verdient hat, wenn Ihr mich fragt!«
»Aber das dürfen sie doch nicht …« Entsetzt erkannte sie, dass Lyseke sich an dem Wahnsinn beteiligte. Marike machte ein, zwei Schritte vorwärts, doch wieder drohte sie Schwärze zu umfangen. »Lass das!«
»Jungfer Marike!« Notke sprang herbei. »Ihr solltet Euch wieder hinsetzen. Ihr seid kreidebleich!«
»Ich muss … die dürfen doch nicht …« Marikes Gedanken überschlugen sich. Die Gruppe war inzwischen an dem Baum in der Mitte des kleinen Höfchens angekommen. Jemand warf das andere Ende der Schlinge über einen breiten Ast, dessen Rinde schon ganz abgeschabt war. Die Leute zerrten an dem Schmied, der sich, puterrot vor Wut und Anstrengung, gegen die Menschen stemmte, die ihn hängen wollten. Und Lyseke Oldesloe gehörte dazu. Sie zeterte mit tränenüberströmtem Gesicht, riss dem Schmied an der Kleidung und ließ ihre kleinen Fäuste auf ihn einprasseln, als sei der Teufel in sie eingefahren.
»Lyseke!«, rief Marike. »Nicht!«
Lysekes Kopf ruckte
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