Das Mädchen und der Schwarze Tod
strich er sie am Rand des Gefäßes aus und kratzte einige Schriftzeichen auf das bereits beinahe vollgeschriebene Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag.
»Man möge nach meinem Tode im Dom zu Lübeck, in den Kirchen Sankt Marien, Sankt Peter, Sankt Katharinen, Sankt Jakobi und Sankt Aegidien Totenmessen lesen. Zwei von drei Teilen meines Barvermögens sowie das Haus in der Königstraße sollen nach meinem Tod an meinen noch zu zeugenden Sohn fallen. Falls er noch unmündig ist, gehe das Vermögen zu Händen meines zukünftigen Weibes, des Anton Oldesloes Tochter Lyseke. Mein Weib möge mit dem Geld schalten und walten, wie es ihr recht erscheint«, stand da bald. Doch nur wenige Buchstaben später wurde die Feder langsamer und verhielt schließlich mitten im Strich. Gunther war nicht danach zumute, sein Testament aufzusetzen.
Von Kirchow griff zu einem Leinentuch, um sich den Schweiß von der hohen Stirn zu wischen. Die Hitze des Tages hatte sich zur Nacht hin ein wenig abgekühlt, doch noch immer war es drinnen und draußen wärmer als an manchem Frühlingstag zur Mittagsstunde. Das spitze jugendliche Gesicht war von Aufregung und Schnaps gerötet, das blonde Haar, das ihm sonst in einem sauberen Bogen bis auf die Schulter fiel, klebte ihm an Hals und Schläfen. Er würde es für die Hochzeit schneiden lassen müssen. Mit einem Zug leerte er den kleinen Krug und ließ den Schnaps auf Zunge und Kehle brennen. Sein Kopf drehte sich vor Glück, und der Alkohol tat sein Übriges. Ja, für seine eigene Hochzeit! Wieder kribbelte es Gunther in der Magengegend, teils wegen des geistigen Getränks, teils wegen der Aufregung. Er hatte nach Monaten des Zögerns endlich bei Anton Oldesloe um Lysekes Hand angehalten, und der alte Haifisch hatte sie ihm gewährt. Nun, nach vollbrachter Tat, erschien dem jungen Mann alles so einfach, und er wunderte sich, warum es ihn vor seinem zukünftigen Schwiegervater so lange gegraust hatte.
»Er wird dir schon nicht den Kopf abreißen!«, hatte Lyseke ihn immer geneckt, doch insgeheim hatte Gunther genau damit gerechnet. Oldesloe war einer der erfolgreichsten Kaufleute in Lübeck. Gunther von Kirchow stellte alles dar, was Oldesloe verachtete – ein Edelmann von Geburt, der für Ansehen und Einfluss niemals hatte arbeiten müssen. Es würde noch viel Zeit vergehen, bis sein Schwiegervater ihn wirklich akzeptieren würde, so viel stand fest. Er griff zu der Schüssel mit Sand, streute eine kleine Handvoll über die Schrift, um die Tinte zu trocknen.
Die Leute würden sagen, es wäre für beide eine gute Partie. Er würde sie des Geldes halber, Lyseke ihn des Namens und der Güter wegen heiraten. Sollten sie doch! Die Menschen hielten auch eine allzu überschwängliche Liebe in der Ehe für schädlich. Natürlich konnte seine Familie das Geld brauchen. Doch er und Lyseke wussten es besser.
Sorg fältig füllte Gunther den Sand zurück in die Schale, klopfte das Papier ab und blies darüber, um es zu säubern. Er griff wieder zur Feder und begann zu kritzeln. »Der dritte Teil meines Vermögens gehöre der Bruderschaft des heiligen Blasius. Sie möge es zum Totengedenken der Mitglieder, zum Unterhalt von Witwen, Waisen und Alten verwenden, zum Spenden von Vikarien und Altären und zum Ausrichten von Messfeiern.« So war es üblich in der Bruderschaft, die nicht nur dem Aufbau und Erhalt von Verbindungen diente, sondern dafür sorgen sollte, dass der Seelen ihrer Mitglieder bis zum Jüngsten Tage gedacht wurde – und die Chance auf einen Platz an der Seite Gottes gesteigert würde. Und Oldesloe hatte schon recht – jetzt mit der Pest vor den Toren der Stadt war es sinnvoll, sein Testament zu machen. Also setzte er seine Unterschrift unter das Dokument und beschloss, es gleich morgen zum Notar zu bringen, damit es rechtskräftig würde.
Gunther nahm den Kreisel wieder auf, den Lyseke ihm geschenkt hatte. Mit dem Spielzeug hatte sie ihm deutlich machen wollen, was für ein Kindskopf er doch war. Er schmunzelte und streichelte das abgenutzte, dunkle Holz. Manchmal erschien ihm die Geliebte so viel erwachsener als er selbst. Er gab dem Kreisel auf dem Tisch Tempo, entließ ihn surrend und folgte seinen Bahnen mit den Augen. Nach einer Weile verlangsamte sich der Kreisel wieder, dann stieß die Spitze an ein schiefes Holzbrett und geriet aus dem Gleichgewicht. Bevor Gunther sich versah, sauste das Spielzeug schräg über den Tisch, hinein in das Tintengefäß, das zersprang und seinen
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