Das Mädchen und der Schwarze Tod
ging sie die Figuren des Totentanzes von vorne nach hinten durch. Wenn sie die Lübeck so fernen Gestalten wie den Papst oder den König einmal wegließ, dann war in den letzten Wochen in Lübeck entsprechend aller Figuren vom Bischof bis zum Arzt ein Mensch gestorben. War der Totentanz zum Leben erwacht und verschlang seine Opfer? Oder verlor sie vollends den Verstand? Oder geschah das Undenkbare, nämlich dass jemand so hohe Würdenträger wie den Bischof, den Guardian Clemens und den Bürgermeister von Calven planmäßig erschlug? Und warum in Gottes Namen malte Notke die Gesichter der Toten überhaupt in sein Bild? Zum zweiten Mal heute begann der Raum sich um sie herum zu drehen.
»Herrin? Ist Euch nicht gut?«, hörte Marike Alheyd fragen, doch sie brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen.
»Alheyd«, sprach sie dann leise, »hilf mir hier raus!« Die Magd ergriff ihren Arm, um sie zu stützen, und dann kehrte Marike zurück in das Kirchenschiff von Sankt Marien. Nichts konnte den Pater dazu bringen, dieses Begräbnis zu verpassen, es sei denn, es handelte sich um etwas von großer Wichtigkeit – oder jemand hielt ihn davon ab. Bei diesem Gedanken war Marike ganz froh, dass Alheyd sie stützte.
Die Magd und sie schlossen zu der Menge auf, die bereits am Bartholomäus-Altar vor der Fünte stand, wie hier das Taufbecken genannt wurde. Weihrauch brannte ihr in den Augen, doch sie war dankbar dafür, denn so roch man die Leichensäfte nicht so stark. Marike sah sich zum wiederholten Male um. »Pater Martin – ich muss Pater Martin finden, Alheyd«, sprach sie gepresst.
Die größere Magd stellte sich auf die Spitzen ihrer Holzschuhe. »Den seh ich nich’, Herrin. Habt Ihr ihn denn schon geseh’n?«
»Nein, habe ich nicht -«, begann sie, doch sie verstummte. Während sich die große Schar der prachtvoll gekleideten Trauergäste um den Altar des Bartholomäus versammelte, stand Schmied Lynow ungefähr auf ihrer Höhe mitten im Kirchenschiff und starrte sie mit dunkel unterlaufenen Augen an. Das Gesicht stach rot vor Hitze aus seinem braunen Wams hervor. Er griff zum Hals, als wolle er sich mehr Luft verschaffen, und nestelte fahrig die Verschlüsse auf. Marike hatte nicht gewagt, sich zu bewegen. Nun taumelte er gar leicht und hob die andere Hand, wie um nach ihr zu greifen, obwohl sie doch sicher zehn Ellen entfernt stand. War der Mann betrunken? Doch Marike ahnte die Wahrheit, noch bevor er seinen Hals freigelegt hatte. Lynow war krank. Er hatte Fieber, wusste vermutlich selbst nicht genau, wo er sich befand. Dann entblößte seine fahrige Geste die hellen Beulen an seinem Hals.
»Die Pest!«, brüllte Alheyd neben Marike. »Die Pest!«
Es wurde für einen Augenblick ganz still in der Marienkirche. Die einzigen Geräusche machte Lynow selbst, als er voranschlurfte. Nun sah man, wie krank der Mann tatsächlich war, denn aus jeder Bewegung sprachen Schwäche und Verwirrung. Was Marike für Trunkenheit gehalten hatte, war das Fieber. Hatte der Schmied sie vorhin berührt? Nein, nein, da war sie sich ganz sicher. Marike wusste wenig über die Pest, außer, dass man sie sich durch schlechte Luft oder die Berührung eines Kranken zuzog. Sie war völlig unberechenbar – bei manchen dauerte es Tage, bis die ersten Zeichen ausbrachen, bei anderen nur Stunden. Manche bekamen Hautverfärbungen, andere erstickten an dem Eiter, wieder andere siechten tagelang dahin. Doch die Pestbeulen an Bernt Lynows Halsbeuge beendeten zumindest das Warten. Allein die Furcht vor der Pest hatte Lübeck in den vergangenen Wochen, ja Monaten in Schrecken versetzt. Nun würde Marike sehen, was die Seuche selbst anrichten würde.
Die Lähmung der Menschen fiel abrupt von ihnen ab. Ein junger Priester, der rechts von Marike am Smullinges-Altar gekniet hatte, sprang auf, stürzte an ihr vorbei und traf sie hart an der Schulter, sodass sie in den Elisabeth-Altar stolperte, der mitten im Norderschiff stand. Sie erlangte ihr Gleichgewicht schnell zurück, bevor die Kerzen ihr Gewand in Brand stecken konnten, doch die schmuckvolle holzgebundene Bibel, die darauf stand, wankte und fiel vom Altar. Marike scherte sich nicht darum.
Während Lynow mit glasigen Augen um sich starrte, stoben die Gläubigen auseinander und stürmten zu den Ausgängen der Kirche. Die Schnellen und Gewandten rissen die Langsamen und Unbeweglichen mit sich. Ein Großteil rannte zur nahen Annenkapelle mit dem Sternengewölbe, doch die Hälfte des
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