Das Mädchen und der Schwarze Tod
nicht mehr dazu.«
»Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich nicht bereit war, dein Leben dafür zu opfern?«, fragte Martin beinahe gereizt. Sie sah den Widerhall der Furcht in seinen Augen.
»Nein! Natürlich nicht.« Sie versuchte, all die Neuigkeiten zu verdauen, die sie heute gehört hatte. »Frau von Calven berichtete von einem Splitter in der Stirn ihres Mannes. Sie meinte, dabei habe es sich um einen Span vom Kreuze Christi gehandelt. Erinnert Ihr Euch an den Einstich in der Stirn von Kirchows?«
»Sicher. Aber ist das nicht eher ein Zufall? Beide können sich im Todeskampf leicht solche Holzsplitter zugezogen haben.«
»Wer weiß? Aber wenn Anselmus so einen Splitter auch beim Leichnam des Bürgermeisters gefunden hat, dann gäbe es einen Grund, ihn zu töten.«
»Glaubst du immer noch, dass das alles auf einem Fluch basiert?«, fragte Martin.
Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, Pater, Ihr habt recht gehabt. Hinter alldem steckt zu viel Berechnung. Von Kirchow stirbt, nachdem er die Bruderschaft in seinem Testament bedacht hat. Von Calven stirbt, weil er gegen den Wunsch der Bruderschaft die Märkte und Häfen schließen will. Und nun Anselmus, der für uns Nachforschungen anstellte. Lynows Bruderschaft hat ganz sicher etwas damit zu tun, und sie verfolgt einen sehr weltlichen Plan! Er wollte mir etwas über den Totentanz sagen... oh – Heilige Mutter Maria!« Sie hielt inne und schlug sich vor die Stirn. »Wie konnte ich das vergessen. Ich habe noch etwas Wichtiges entdeckt, Pater. Als ich da drinnen in der Kapelle stand, da -«
»Marike!« Die Stimme ihres Vaters drang von den Schüsselbuden zu ihnen herüber. So schnell ihn seine Beine trugen, lief er an der Mauer von Sankt Marien zu ihnen herüber, Hinrich im Schlepptau. Marike war glücklich, ihn unbeschadet zu sehen, doch sie wünschte, er hätte sich mehr Zeit gelassen.
»Der Totentanz«, sprach sie hastig zum Pater. »All die Toten – sie entsprechen genau der Abfolge des Totentanzes! Es ist beinahe, als würde er zum Leben erwachen!« Dann war der Vater auch schon in Hörweite, und während der Pater diese Information ungläubig verarbeitete, schloss Johannes Pertzeval seine Tochter in besorgter Hast in die dünnen Armen, als könne er so jedes Übel von ihr abschirmen.
»Geht es dir gut, mein Stern? Hat er dich angefasst? Dir ist doch nichts geschehen?« Der alte Mann strich ihr über das Haar, tastete ihr Gesicht ab und küsste ihre Stirn.
»Es geht mir gut, Herr Vater«, lächelte Marike zaghaft. »Regt Euch nicht auf, das ist nicht gut für Euch!« Doch seine Sorgen taten ihr gut. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah. Sie schmiegte sich eng an ihn und schloss die Augen.
»Komm, wir müssen heim. Hier draußen ist es nicht mehr sicher.« Er zog Marike auf die Füße.
»Hier draußen? Auf der Straße? Heißt das, wir dürfen das Haus nicht mehr verlassen?«, fragte die Tochter panisch. »Manche Pestzüge dauern Monate!«
»Marike, jeder kann von der Pest befallen sein, wirklich jeder! Nur zu Hause sind wir sicher. Glaub mir, ich weiß das!«
»Aber sie befällt doch nur die Unreinen und Sünder, Ratsherr Pertzeval«, warf Pater Martin ein. Der Vater warf dem Priester daraufhin einen so abfälligen Blick zu, dass der fragend über seine Augengläser schielte.
»Ihr wisst so gut wie ich, dass das nicht stimmt!«, knurrte Pertzeval dann. »Meine Frau war eine Heilige, und sie starb trotzdem!«
Pater Martin schwieg kurz, bevor er leise antwortete: »Wenn sie eine Heilige war, musste sie die Gerechtigkeit des Herrn nicht fürchten.«
Der Kaufmann schnaufte ärgerlich. »Und was hat das mir und meinen Kindern geholfen? Gott hat meine Familie zerrissen, bis kaum etwas davon übrig blieb! Und kommt mir jetzt nicht damit, dass die Wege des Herrn unergründlich seien!«
»Nein, Herr Pertzeval. Die Wege des Herrn sind gerade; die Gerechten gehen auf ihnen, die Treulosen aber kommen auf ihnen zu Fall. Kehrt heim – immerhin geht es Euch und Eurer Tochter gut. Das kann man von Lynow nicht sagen.« Er neigte das Haupt. »Marike, ich kümmere mich um deine Bitte«, sagte er dann eindringlich.
Marike lächelte dankbar. Er würde nicht aufhören, die Morde zu untersuchen. Doch wie sollte sie ihm dabei helfen, wenn sie zu Hause eingesperrt wäre? Jetzt verwünschte sie den Drang ihres Vaters beinahe, seine Tochter zu beschützen.
»Marike! Jungfer Pertzeval!«, schallte es da herüber. Bernt Notke eilte näher. Ihr
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