Das Mädchen und der Schwarze Tod
Faden zu belügen. »Wenn Euch noch etwas einfällt, Jungfer, wisst Ihr ja, wo Ihr mich findet«, sprach der Fron. Er zögerte. »Mir tut es auch leid um den Bruder. Er war ein guter Mann.« Dann verließ er die Kapelle. Der Zug der Trauernden, der im Norderschiff von Altar zu Altar zog, um die Heiligen um Fürsprache für Gunther von Kirchow zu bitten, hielt gerade beim Heiligen-Kreuz-Altar an der Seite des Lettners, die der Beichtkapelle zugewandt war. Nur noch die Privatkapelle der Oldesloes trennte sie nun von der Menge mit den schleifenden Schuhen, den Gebeten und dem Getuschel.
Marike war für die Gelegenheit zum Rückzug dankbar, die die Beichtkapelle ihr bot. Sie wollte jetzt niemanden sehen, wollte nicht wieder die Maske der fröhlichen, braven Tochter für die Gesellschaft aufsetzen müssen. So müde, wie sie sich innerlich gerade fühlte, wusste sie auch nicht, ob sie ihre jüngst erworbenen Geheimnisse vor jenen Leuten verbergen könnte, die ihr nahestanden. Und besonders bei diesen, namentlich ihrem Vater und Bernt Notke, war ihre Verschwiegenheit wichtiger denn je. Wenn Anselmus selbst auf eine bloße Vermutung hin getötet worden war, konnte sie niemanden mehr ins Vertrauen ziehen, ohne ihn zu gefährden.
Aber war Anselmus’ Tod nicht auch eine Art Beweis? Der Beweis, dass Pater Martin und sie mit dem Verdacht gar nicht so falsch lagen? Waren Lynow und seine Spießgesellen nun schon so verzweifelt, dass sie sich an einem angesehenen und ehrbaren Mann wie dem Meister des Heiligen-Geist-Spitals vergriffen? Sie schloss ängstlich die Augen und zählte ihre Atemzüge, um eine aufkeimende Panik zu zügeln. Alles ging so schrecklich schnell! Kaum hatte der Flötenspieler seine Drohung ausgesprochen, starb auch schon Gunther von Kirchow. Bürgermeister von Calven war der Nächste, und nun auch noch der Pestarzt Anselmus. Konnte Menschenhand wirklich so schnell und so kalt töten?
Als Marike ihre Augen wieder öffnete, blieb ihr Blick am Totentanz hängen. Die weiße Robe des Kartäusers leuchtete aus dem dunklen Umfeld heraus und ließ sie humorlos auflachen. Vielleicht wäre sie die Nächste, und man würde sie in der Trave schwimmend auffinden, so wie Burchart vom Orden der Kartäuser. Nur dass es bei ihr kein Unfall sein würde, wie bei dem armen Bruder, sondern dass man vorher vermutlich ihren Kopf an einem Brückenpfeiler einschlagen würde. Der Gedanke ließ sie erschauern.
Ihr Blick glitt vom Kartäuser zu dem grün gewandeten Edelmann mit seinem Falken auf der Faust. Marike erstarrte. Sie machte ein paar Schritte voran auf das Gemälde zu und studierte die Züge der Figur. Gunther von Kirchow lächelte aus dem Bild zu ihr herab. Notke hatte Lysekes toten Verlobten darin in kecker Pose verewigt, obwohl er ihn doch kaum gekannt hatte. Ihr Blick huschte zurück zu dem Kartäuser. Bildete sie sich das ein, oder erinnerten auch dessen Brauen, seine dünnen Lippen und die großen Ohren an den verstorbenen Bruder Burchart? Wie besessen zog sie das Leinentuch herunter, das den vorderen Teil des Gemäldes verbarg. Da waren sie – sie alle. Der Bischof mit des toten Arnolds Zügen, der so tragisch verunglückte Guardian Clemens als Abt, Ritter Evert von Ulenburch, der ein passendes Ende im Badehaus gefunden hatte. Die Züge des in sich gekehrten Bruder Burchart folgten, und die Reihe ging mit dem Edelmann Gunther von Kirchow weiter. Nach dem Domherren schaute Bürgermeister Wilhelm von Calven wie aus dem Leben gegriffen aus dem Bild hervor. Ihm folgte – Marike hatte sich das vorhin nicht eingebildet! – der Arzt mit dem Gesicht von Bruder Anselmus. Die Farbe daran war noch so frisch, dass die geröteten Wangen glänzten. Der Arzt begutachtete ein erhobenes Uringlas kritisch, während rechts und links von ihm die grau-schwarzen Hände der Todesfiguren nach ihm griffen. All diese Figuren waren nachträglich überarbeitet worden, denn ihre Gesichter wirkten viel greifbarer, lebendiger. Sie besaßen mehr Tiefe, sogar mehr Körperschwung, und ihre Augen … Marike schlug die Hände vor das Gesicht. Die Augen der Sterbenden im Totentanz flehten verzweifelt um Beistand.
Die junge Frau schüttelte ihr Entsetzen ab, denn sie ließ endlich den Gedanken zu, gegen den sich ihr Verstand mit allen Kräften wehrte. Es hing alles zusammen! Lysekes Verlobter, der Bürgermeister, selbst Anselmus und der Domherr, von dem Martin gestern flüchtig gesprochen hatte – sie alle waren miteinander verbunden. Immer wieder
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