Das Mädchen und die Herzogin
hättet das Zweite Gesicht.»
«Himmel, nicht so laut!» Die Alte blickte hastig nach links und rechts und sah sie dann misstrauisch an. «Wer sagt das?»
«Die alten Frauen hier im Dorf.»
Die Häcklerin seufzte. «Dass diese Weiber ihr Maul nichthalten können. Komm rein. Die Kräuter lass draußen im Schatten stehn.»
In der stickigen dunklen Stube erklärte die Heilerin ihr, dass sie zwar hin und wieder Dinge sehe und spüre, von denen andere nichts wüssten; willentlich herbeirufen könne sie diese Gesichte aber nicht. Das komme und gehe, wie es wolle. Dann fragte sie, was genau Marie wissen wolle.
«Es geht um einen ganz bestimmten Menschen, um einen jungen Mann. Er ist beim Schorndorfer Blutgericht in die Verbannung geschickt worden. Ich muss wissen, wo er ist und ob es ihm gutgeht.»
«Wenn ich ihn nicht kenne, kann ich ihn nicht sehen. So einfach ist das.»
«Aber Ihr habt ihn gesehen. Er hat mich seinerzeit zusammen mit seiner Familie hierher ins Dorf gebracht. Das ist zwar ewig her, aber vielleicht erinnert Ihr Euch. Und im Jahr drauf ist er noch einmal mit seinem Vater gekommen.»
Dann beschrieb sie Vitus. Sie brauchte lange dafür, und die Alte grinste schließlich.
«Ja, ich erinnere mich. Wie ich sehe, liebst du ihn.»
Marie wurde rot.
«Brauchst nicht verlegen werden. Das ist gut so. Ich hatte schon Bedenken, dass dir unser Herr Pfarrer zu sehr gefällt. Der ist nämlich Feuer und Flamme für dich. Oder hast du das noch gar nicht bemerkt?»
Jetzt war Marie erst recht verlegen. Die Häcklerin legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Muthlein ist ein guter Pfarrer. Aber er ist jung und für ein Leben ohne Frau nicht gemacht. Gib ein wenig acht.»
Marie dachte an ihre Begegnung im Pfarrhaus und daran, wie Muthleins Worte und Blicke sie verwirrt hatten. Besser, sie suchte ihn nie wieder zu Hause auf.
«Bitte, Gevatterin – könnt Ihr mir helfen?»
Die Alte wiegte eine Zeit lang mit geschlossenen Augen den Kopf hin und her. Schließlich sagte sie:
«Besitzt du etwas, was mit diesem Vitus in Verbindung steht?»
«Ja. Einen roten Stein, den hat er mir zum Abschied geschenkt. Und einen Brief.»
«Wenn er den Brief nicht selbst geschrieben hat, nutzt er nichts. Aber den Stein kannst du mir geben: Ich werde ihn unter mein Schlafkissen legen, und wenn Gott will, bringt er mir Nachricht von deinem Vitus.»
«Danke!» Marie wäre der Heilerin am liebsten um den Hals gefallen.
«Schon recht. Aber eine kleine Vergeltung erwart ich schon noch. Bring mir in den nächsten Tagen frische Waldkräuter vorbei, das Bücken fällt mir neuerdings schwer.»
Als Marie heimkam, roch es in der Hütte nach aufgewärmter Kohlsuppe. Wie so häufig war für sie nichts übriggeblieben als ein paar harte Brotkrumen. Sie würde also wieder einmal hungrig zu Bett gehen müssen. Der einzige Trost war, dass ihre kleine Schwester vielleicht einen Nachschlag abbekommen hatte. Da sie und Nele beim Essenschöpfen immer als Letzte an der Reihe waren, blieb für Nele oft ein Quäntchen mehr, wenn Marie nicht rechtzeitig zum Essen kam.
Nachdem sie Topf und Schüssel gespült hatte, schlich Marie in einem unbemerkten Augenblick in den Schuppen. Dort hielt sie, hinter einem losen Brett, ihre Schätze verborgen: den roten Stein, Vitus’ Brief, eine Glasmurmel, die Irmel ihr einst geschenkt hatte, ein abgegriffenes Holzpferdchen aus ihrer Kindheit und ein paar Pfennige, die ihr die Schultheißin für kleine Gefälligkeiten zugesteckt hatte. Als sie den Beutel ausleerte, fiel auch der Stofffetzen heraus, in dem dieGewandnadel der Herzogin eingewickelt war. Die hatte sie ganz vergessen. Die Steine blitzten im Abendlicht, das durch die Tür hereindrang. Ob sie wohl wertvoll war?
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie konnte damit ja zur Herzogin gehen und sie anflehen, beim Herzog um Gnade für Vitus zu bitten. Aber wie sollte sie erklären, woher sie das Schmuckstück hatte? Und warum sie erst nach Jahren damit kam? Und hieß es nicht auch, dass Herzog Ulrich seine Gemahlin nicht leiden mochte, dass er sie übel traktiere und gar schon geschlagen habe? Und wie sollte sie bis zur Landesherrin vordringen? Nein, das war wohl kein so guter Einfall. Sie würde die Nadel behalten, für Notzeiten, schließlich besaß die Herzogin Kleinodien ohne Ende.
Am nächsten Sonntag schon, nach dem Kirchgang, winkte die Häcklerin Marie zu sich heran und bat sie, sie heimzubegleiten. Die Alte hatte inzwischen große Mühe beim Gehen und wagte sich
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