Das Mädchen und die Herzogin
sie. «Ich danke Euch!»
Unwillig schob die Frau sie von sich weg. «Wart ’s erst mal ab.» Sie schüttelte den Kopf und sagte, mehr zu sich selbst: «Ist doch immer dasselbe. Hat eine Frau nur ein Kind, bringt sie sich um dafür. Hat man ein Dutzend, werden sie zur Plage.»
So kam es, dass Marie jeden Heller, den sie übrig hatte,hinauf in die Festung brachte, als Handgeld für den Mauerwächter. Dafür ließ der sie jeden Sonntag nach dem Gottesdienst durch eine Pforte in den Burggarten, wo in einem verborgenen Winkel die Amme mit Veith auf sie wartete. Nach einer guten Stunde, unter den Argusaugen von Theres’ Vetter, musste sie wieder hinaus. Dennoch war diese einzige Stunde in der Woche das, wofür Marie fortan lebte.
Nie würde sie den Tag vergessen, als die Amme ihr den Kleinen zum ersten Mal in die Arme gelegt hatte. Wie groß und kräftig er geworden war, wie lang und dicht sein blondes Haar! Er hatte sie aus seinen hellen Augen angeblickt und zu brüllen begonnen.
«Er kennt mich nicht mehr», hatte sie mit erstickter Stimme gesagt.
«Kein Wunder», hatte die Amme entgegnet, um dann mürrisch hinzuzufügen: «Weiß gar nicht, warum ich das mache. Kopf und Kragen kann mich das kosten.»
Dennoch erschien die Frau weiterhin Sonntag für Sonntag mit dem Jungen, pünktlich zur vereinbarten Stunde. Marie war sich sicher, dass Veith sie schon bald als seine eigene Mutter erkennen würde, und sie zersprang schier vor Glück, wenn er sie anlächelte und zu strahlen begann. An anderen Tagen wiederum beachtete er sie kaum oder begann gar zu weinen, wenn sie ihn auf den Arm nahm. So vergingen die Wochen und Monate. Sie sah ihren Sohn heranwachsen, sah, wie er krabbeln lernte, dann sitzen, wie er die ersten Worte zu brabbeln begann, die ersten unsicheren Schritte an ihrer Hand wagte. Jeder Abschied von ihrem Kind trieb ihr erneut die Tränen in die Augen, ihr war, als müsse sie sterben und dürfe erst eine Woche später wieder zum Leben erwachen. Dennoch gab sie die Hoffnung nicht mehr auf. Eines Tages würde sie wieder vereint sein mit ihrem Sohn! Vitus hingegenhatte sie aus ihren Gedanken und aus ihrem Herzen verbannt. Zu groß war die Scham darüber, was der Herzog aus ihr gemacht hatte.
31
Im Lande brodelte es. Nach heftigen Stürmen war die Ernte zerstört, das Obst und Gemüse in den Gärten, das Korn auf den Feldern – alles hatte die Natur niedergemacht, als ob sie ein Zeichen setzen wollte. Hunger und Not verbreiteten sich wie die Pestilenz. Mehr und mehr Menschen begannen zu wildern oder Holz zu stehlen, und wer sich erwischen ließ, wurde grausam bestraft. Nicht mehr, wie einst, mit einer Geldbuße, nein: Man hackte ihnen die Hand ab oder stach ihnen die Augen aus. Vielerorts wurden Männer hingerichtet, angeblich, weil sie Anschläge auf den Herzog geplant hatten, andere nahmen sich in der Kerkerhaft verzweifelt das Leben.
Überhaupt schien das Volk in zwei feindliche Lager gerissen. Die einen glaubten, ihr Schäflein ins Trockene zu bringen, wenn sie dem Herzog nur laut genug ihre Treue und Gefolgschaft bekundeten, die andern zitterten vor Angst vor ihrem Landesherrn und dessen neuen Handlangern. Etliche flohen aus ihrer Heimat; allein aus dem Remstal waren über fünfhundert Menschen ins Ungarische ausgewandert.
Inzwischen hatte der Gelehrte Ulrich von Hutten in öffentlicher Rede den wirtembergischen Herzog gebrandmarkt und zum Tyrannenmord aufgerufen.
Auf denn, ihr Schwaben!,
hieß es in dem von ihm verfassten und überall verbreiteten Schreiben,
Ergreift die Freiheit, nach der ihr dürstet!
Zugleich pries er hymnisch Sabinas Tugend und Schönheit. Längst war auchder Vater des ermordeten Stallmeisters von seiner Forderung nach Gold als Totschlagssühne abgerückt und verlangte vom Kaiser den Kopf des Herzogs.
All das war zu lesen in den Flugschriften, die das Land überschwemmten und die auch Vitus in die Hände bekam und sich vorlesen ließ auf seinem Weg über die Landesgrenze. Wie ein Verdurstender sog er all die Neuigkeiten in sich auf, wollte immer noch mehr erfahren über seine Heimat, in die er an diesem Augusttag nach drei Jahren endlich zurückgekehrt war. Immer wieder suchte er das Gespräch mit den Menschen, deren Zungenschlag er so sehr vermisst hatte, auch wenn ihm nicht verborgen blieb, wie misstrauisch und ängstlich die Leute in Herzog Ulrichs Land geworden waren.
Aber das konnte seine freudige Stimmung nicht ernsthaft trüben. Denn bald würde er bei Marie sein, seiner
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