Das Mädchen und die Herzogin
geliebten Marie, an die er jeden Tag in der Verbannung gedacht hatte.
Mit klopfendem Herzen näherte er sich dem kleinen Dorf mitten im Schönbuch, vernahm das Hämmern der Dorfschmiede, sah das erste Vieh auf der Weide. Er beschleunigte seinen Schritt und musste an sich halten, nicht loszurennen, als er in einer Gruppe von Bauern Maries Vettern erkannte. Diesmal würde er sich nicht verstecken, diesmal kam er als freier Mann und würde Marie mit sich nehmen.
Lenz Schechtelin runzelte die Stirn, als Vitus zu ihnen trat.
«Du? Was willst du hier?»
Herausfordernd sah Vitus ihn an. «Ich bin gekommen, um Marie zu holen.»
«Das Rabenaas ist fort. Auf und davon mit unserem Pfaffen!»
«Du lügst!»
«Dann frag doch meine Mutter.» Er wies mit dem Kopf zu den Frauen. «Die wird dir allerdings den Hals umdrehen, wenn du den Namen von diesem Miststück auch nur erwähnst.»
Vitus wich zurück, als hätte sich ihm ein Dämon gezeigt. Dann rannte er los, rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, zurück in den Wald, bis ihm die Lunge stach und er sich heulend zu Boden warf.
Seine Hände krallten sich in die feuchte Erde, während er von Schluchzern geschüttelt wurde. Er hatte es gewusst! Er hatte also die gierigen Blicke richtig verstanden, die dieser Schweinepriester auf sein Mädchen geworfen hatte. Seine Marie hatte ihn von Anfang an betrogen und belogen. Nichts als eine elende Pfaffenhure war sie!
Als der Abendhimmel in flammendem Rot erglühte, hatte Vitus einen Entschluss gefasst. Sein erster Gang daheim würde ins Nachbarhaus sein. Dort würde er fragen, ob Hedwig ihn noch immer zum Mann nehmen wolle.
Einen derartigen Menschenauflauf hatte Marie seit der Hochzeit des Herzogs nicht mehr erlebt. Man schaffte es kaum, durch die Tore der Residenzstadt zu gelangen, so drängte und schob und stieß der unaufhörliche Strom.
«Wer ist der Unglückliche?», fragte sie die Frau neben sich.
«Der alte Breuning. Der Tübinger Vogt. Das gibt ein Spektakel! Überall im Land haben die Meister und Herren ihrem Gesinde für die Hinrichtung freigegeben. He, du Erzlump! Finger weg von meinem Rock.»
Marie spürte schmerzhaft einen Ellbogen in ihrer Seite, dann wurde sie durch das Innere Tor geschoben, immer weiter in Richtung Markt. An den Straßenecken waren Schragentischeaufgestellt, an denen Bäcker ihre Henkerswecken, Wirtsleute ihren Wein, Quacksalber ihre Mittelchen, Segenssprüche und Amulette mit lautem Geschrei feilboten, und aus allen Gassen strömten noch mehr Schaulustige zusammen. Sie hatte erfahren, dass Ulrich, der ansonsten kaum noch in seiner Residenz anzutreffen war, dieser Tage in Stuttgart Gericht halten würde, und das war auch der Grund dafür, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte. Sie musste ihn aufsuchen und ihn, koste es, was es wolle, um die Gnade bitten, ungehindert Zugang zu ihrem Sohn zu erhalten. Denn Veith war krank. Ein böser Brechdurchfall hatte ihn gepackt, mit fliegender Hitze und Auswurf, und der Gedanke, es könne die Pestilenz sein, brachte sie schier um den Verstand.
Gegen ihren Willen kam sie auf dem Marktplatz zu stehen, wo ein hohes Holzpodest errichtet war. Dort oben standen schon die Henkersknechte bereit, einen ausgemergelten Greis fest im Griff. Der Delinquent hielt den Kopf gesenkt, es schien, als könne er sich kaum auf den Beinen halten. Einige der Umstehenden bespuckten ihn, warfen mit Eiern und Rossäpfeln.
Sie wandte den Blick ab. Alles andere wollte sie als Zeuge einer Hinrichtung werden, Zeuge einer weiteren Bluttat dieses Wahnsinnigen. Ganz plötzlich schoss ihr ein Bild vor Augen, das Bild des Herzogs in ihren Armen, wie er sein tränennasses Gesicht hob und sie mit stummen Blicken um Trost bat. Was war mit diesem Mann geschehen, dass er zu so einem blutrünstigen Ungeheuer geworden war? Hatte er nicht auch, wie ihr kleiner Veith, einst gelacht und gejauchzt beim Anblick eines Spielzeugs, beim Versuch, die ersten Schritte zu wagen? Es musste der Teufel selbst sein, der die Hände im Spiel hatte.
Verzweifelt versuchte sie, der Menschenmasse zu entrinnenund in eine der Gassen zu entkommen, wo sie in einem ruhigen Hinterhof das Ende des grausigen Schauspiels abwarten wollte. Doch immer mehr Gaffer strömten von hinten nach, sie versuchte es seitwärts, trat dabei einem Hund auf die Pfoten, der laut aufjaulte. Sie bekam kaum noch Luft, so eng war es und so drückend lastete die ungewöhnliche Hitze an diesem Septembertag zwischen den Häuserwänden. Das
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