Das Mädchen und die Herzogin
sie, eh sie sich’s versah, auf sein Pferd.
«Bring sie raus aus der Stadt. Aber schnell.»
Marie wehrte sich nicht, als der Reiter lostrabte. Sie hatte alles verloren. Ihr Sohn war ihr genommen und Vitus hasste sie. Hätte der Mann sie nicht in seinem eisernen Griff gehalten, sie wäre kraftlos vom Pferd geglitten und liegen geblieben. Als er sein Pferd draußen vor der Esslinger Vorstadt zügelte und ihr herunterhalf, betrachtete er sie voller Mitleid. Er war noch jung, hatte ein klares, freundliches Gesicht.
«Wo wohnst du?»
«In Tübingen.»
«Warte hier.»
Er stellte sich einem Wagen, der eben auf die Tübinger Landstraße abbiegen wollte, mitten in den Weg und brüllte:
«Halt, stehenbleiben! Fahrt Ihr nach Tübingen?»
«Ja, edler Herr», antwortete der Mann auf dem Kutschbock, ein Kleinkrämer, dem Gerümpel auf der Ladefläche nach zu schließen.
«Dann nehmt diese Jungfer mit. Befehl vom Herzog.»
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Tübingen. Als Marie sich die Burgsteige hinauf zur Schlossküferei schleppte, sah sie Licht in Theres’ Schlafkammer. Zaghaft erst, dann immer heftiger klopfte sie gegen die Tür. Sie musste wissen, wie es Veith ging. Vielleicht konnte Theres veranlassen, dasssie zu ihm durfte, gleich morgen früh und nicht erst nächsten Sonntag.
Es war zum Glück Theres selbst und nicht der Küfermeister, als sich die Tür nach einer guten Weile öffnete.
«Meine Güte, Marie! Du siehst ja aus, als wärest du dem Gottseibeiuns begegnet. Komm rein.»
Dabei sah Theres nicht viel besser aus. Ihr linkes Auge war blaurot zugeschwollen.
«Was ist mit Eurem Auge?»
«Hab mich diesem Bock verweigert, und da hat er zugeschlagen. Vergeht schon wieder. Für heut Nacht hab ich jedenfalls Ruh, er ist weg.»
Sie führte Marie an den Küchentisch und reichte ihr einen Becher mit Wasser.
«Hier trink. Um deinen Kleinen mach dir keine Sorgen. Er ist wieder gesund.»
Da brach Marie in Tränen aus.
Theres nahm sie in ihre knochigen Arme.
«Wenn du nicht willst, dass deinem Sohn etwas zustößt, lass die Dinge ruhen. Er hat keinen Mangel drüben im Schloss, und wer weiß, vielleicht verhilft dir Gott einst zu deinem Recht als Mutter.»
So verging die Zeit. Der Winter kam ins Land, dann ein feuchtkaltes Frühjahr, schließlich ein warmer und trockener Sommer, wie ihn die Bauern ersehnt hatten. In Marie erstarb alle Hoffnung, dass dem Herzog die Macht genommen und das Unrecht im Lande endlich aufhören würde. Dieser Mensch durfte morden und rauben, brandschatzen und entführen, wie er wollte, und niemand wagte, ihm das Handwerk zu legen. Nicht einmal der Kaiser in Wien.
32
Nach außen hin ertrug Sabina die schreckliche Zeit der Ungewissheit mit Würde und Gelassenheit. Innerlich hingegen fürchtete sie zu ersticken. Ihr war, zumindest in den ersten Monaten nach Dietrichs Abschied, als würde es in ihrem Innern immer dunkler, und vielleicht wäre das Licht ihres Lebens tatsächlich ganz erloschen, hätte sie nicht Bekanntschaft gemacht mit den Gedanken jenes Professors der Theologie im fernen Wittenberg, der die ganze christliche Welt in Aufregung versetzte.
Wie ein Feuerbrand waren die unerhörten Ansichten des Doctor Luther durchs Heilige Römische Reich gelodert, nachdem er im letzten Herbst seine Thesen an das Portal der Wittenberger Schlosskirche geschlagen hatte, fünfundneunzig Thesen gegen das Ablasswesen und gegen den Papst. Bald schon forderten allerorten die Bauern von ihren Pfarrern, man solle die Predigt auf Deutsch und nach dem lauteren Evangelium halten, und sie sangen auf den Gassen Luthers Spottlied:
Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt
.
Sabina hatte, durch Reuchlins Vermittlung, Kontakt mit dessen Großneffen Melanchthon aufgenommen, einem der eifrigsten Schüler Luthers, und stand seit kurzem im Briefwechsel mit ihm. Er war es auch, der ihr die Druckfassung der Luther’schen Thesen zugesandt hatte, in Latein zunächst, und Sabina spürte, wie fremd ihr in den Jahren am wirtembergischen Hof die Gelehrtensprache geworden war. Doch bald schon würde eine Volksausgabe in deutscher Sprache erfolgen, dann würden auch weniger studierte Menschen sie lesen können.
Auch die Heilige Schrift begann sie nun mit ganz anderenAugen zu sehen, und sie machte es sich zur Gewohnheit, täglich ein, zwei Stunden darin zu lesen.
So lebte sie zurückgezogen hinter den Mauern des Alten Hofes, fern der höfischen Vergnügungen und Festlichkeiten,
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