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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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längere Zeit gelebt hatten: Aldeia Bona. Zum Ärger meines Vaters hatte sich dort während ihrer Abwesenheit eine nordamerikanische Missionarsfamilie angesiedelt, die unter den Aparai und Wajana fleißig für ihre Auslegung des christlichen Glaubens warb. Auch aus diesem Grund war die Reise für uns in Bona noch nicht zu Ende. Per Boot ging es flussaufwärts weiter nach Mashipurimo. Das ursprünglich als Sommerresidenz von Bona errichtete Dorf wurde nicht nur für uns zum dauerhaften Domizil. In diesem Refugium hatten die Aparai-Familien, mit denen wir dort zusammenlebten, ihre Ruhe vor christlichen Bekehrungsversuchen.

    Unser Dorf mit dem Rundhaus in der Mitte
     
    Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich unser Dorf vor mir. Rund ein Dutzend, zum Teil auf Stelzen gebaute Holzhütten mit silbrigen, von der Sonne gegerbten Palmblattdächern. Aus der Luft betrachtet, muss es wie ein winziges, in den Urwald eingraviertes Oval ausgesehen haben. Mit einem größeren Rundhaus in der Mitte und mehreren lang gestreckten, rechteckigen Hütten, die verstreut um den zentralen Platz lagen. Mashipurimo erstreckte sich über einen weitläufigen Hang, insofern sprachen wir vom Ober- oder vom Unterdorf, je nachdem, an welche Seite des Dorfplatzes die Hütten angrenzten. Der zentrale Platz war das pulsierende Herz einer vitalen Gemeinschaft, in der wir von nun an das gesamte Jahr über lebten, nur hin und wieder unZum Ufer hin wurde der Ort von einer hinter Felsen verborgenen Bucht begrenzt, die man vom Fluss aus leicht übersehen konnte. Das Dorfende, an dem unsere Hütten standen, wurde von kleineren Sträuchern und Bananenstauden gesäumt. Dahinter lagen die Pflanzungen und Gärten der Aparai: verschiedene Sorten von Maniok, Kürbissen, Bananen, Baumwolle, Zuckerrohr, großblättriges Gemüse, das wie eine Mischung aus Kohl und Algen schmeckte, Erdnüsse, Papayas sowie Ananasstauden und Passionsfrüchte. Gleich dahinter standen einige Cashewbäume, deren orangerote Früchte wie Lampions zwischen den Blättern hingen. Hier wuchs der Großteil dessen, was in Mashipurimo gebraucht wurde. Alles andere lieferte der Urwald mit seiner überwältigenden Vielfalt an Pflanzen und Tieren. Oder der Fluss, in dem es vor Fischen, Schildkröten, Schlangen, Krabben und Krokodilen nur so wimmelte und in dessen Sandbänken vergrabene Schildkröten- und Leguaneier ruhten. Man musste nur lange genug vorsichtig mit einem kleinen Stock im warmen Sand herumstochern, bis man auf ihre Schalen stieß. Schildkröteneier waren nämlich eine Delikatesse für uns.
    Unser kleines Urwalddorf hatte rund zwanzig ständige Einwohner; an Festtagen und wenn Besuch aus den Nachbardörfern kam, konnte sich die Zahl verdoppeln und manchmal sogar verdreifachen. An solchen Tagen drehte sich alles um das Polootoppo, das in keinem Aparai-Dorf fehlen darf. Dieser traditionelle Rundbau dient als eine Art Rats- und Gästehaus zugleich. Unter der Decke hing ein prächtiger Maruana, ein runder Deckenschild, der mit den mythischen Tierfiguren der Aparai bemalt war. Man kann sich das als Stuckrosette, Fresko und Dorfwappen zugleich vorstellen. Streng genommen durften Kinder und Frauen das Rundhaus nur betreten, wenn wichtige Besucher empfangen wurden. Ansonsten war das Polootoppo der Ort, an den sich die Männer zu ernsthaften Unterredungen und für die Vorbereitung von Festen zurückzogen. Dass Kinder dennoch darin spielen durften, hatten wir unserem nachsichtigen Häuptling Kulapalewa zu verdanken. Und der Tatsache, dass es für beinahe jede Regel auch mal eine Ausnahme gab.
    In den Hütten der Bewohner, den Tapöis, gab es keine Fenster und keine festen Wände. Sie dienten ohnehin nur als überdachte Schlafstätten und als Schutz vor der gleißenden Tropensonne. Möbel gab es keine, lediglich ein paar Hängematten und kleinere Aufbewahrungskörbe, die wabengleich an den Stützpfosten und unter den Dächern hingen. Das eigentliche Leben spielte sich im Freien ab. Der Dorfplatz war unser Wohnzimmer, der Fluss Badezimmer und Freibad, die Pflanzungen, Gärten und der Urwald waren Speisekammer und Supermarkt zugleich. Persönliche Reichtümer anzuhäufen, erschien den Aparai nicht wichtig, weil alle mehr oder weniger gleich viel besaßen. Dennoch gab es ein ausgeprägtes Bewusstsein für Eigentum. Jeder Gegenstand hatte einen Besitzer, eine Cashewfrucht etwa, die zu Boden fiel, wurde nicht einfach aufgehoben; nur der Eigentümer des Baums durfte sie aufheben und, wenn er wollte,

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