Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
zweite. Neben der eigenen Sprache beherrschen die Aparai-Wajana meist mindestens zwei bis drei weitere indigene und manchmal auch europäische Sprachen. In vielen Fällen Tirio, Wajapi und Portugiesisch, aber auch Französisch und Niederländisch sowie Sprachen und Dialekte aus der jeweiligen näheren Umgebung. Diese Art des Multilingualismus ist für die Völker Amazoniens nicht außergewöhnlich. Obwohl die Wajana heute die Mehrheit stellen – »echte« Aparai dürfte es inzwischen weit weniger als 200 geben (andere Schätzungen sprechen von maximal 400 ) –, verbreitet sich zumindest innerhalb Brasiliens die Sprache der Aparai auch und gerade unter anderen Ethnien. Diese Kuriosität dürfte auf die Alphabetisierung durch evangelikale Missionare aus Nordamerika zurückzuführen sein, die zwischen 1968 und 1992 die christliche Bibel in Aparai übersetzt haben. Eine Sprache, die wie viele andere Amazoniens bis dahin keinerlei Schriftform kannte. Die Mythen und Traditionen der Aparai und der Wajana wurden über Jahrhunderte, wenn nicht über Jahrtausende, ausschließlich durch mündliche Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben.
Vereinzelte Begegnungen der Aparai-Wajana mit »F remden« gab es durch Entdeckungsreisende vermutlich bereits im 18 . Jahrhundert. Es sollten jedoch noch fast hundert Jahre vergehen, bis der Marinearzt Dr. Jules Crevaux im Jahre 1877 erste gezielte Forschungen vornahm. Claudius Henricus de Goeje, der 1903 in das Gebiet der Wajana und Tirio reiste, war einer der ersten Wissenschaftler, die aus rein völkerkundlichem Interesse in das Amazonasgebiet kamen. Schon diese ersten Begegnungen mit Menschen aus der Zivilisation führten dazu, dass sich große Bevölkerungsgruppen der Aparai und Wajana für längere Zeit tief in den Urwald zurückzogen. Der Kontakt mit den Amazonasreisenden war vielfach der Auslöser für verheerende Epidemien, welche die eigene Bevölkerung stark dezimierten.
Gegen Ende der 1930 er Jahre gelangte Otto Schulz-Kampfhenkel als Leiter der Deutschen Amazonas-Jary-Expedition in den brasilianischen Urwald. Die NS -Regierung unterstützte den Forscher, angeblich auch, um die Möglichkeiten eines deutschen Brückenkopfes in Südamerika zu erkunden. Schulz-Kampfhenkels Expeditionsbericht »R ätsel der Urwaldhölle« sowie der gleichnamige UFA -Film wurden Kassenschlager. Auf seiner Reise kam der Forscher auch in Kontakt mit Aparai, er lebte sogar eine Zeitlang unter ihnen in einem kleinen Dorf.
Erst in den 1950 er Jahren begann die Zeit der systematischen ethnographischen Erforschung der Amazonasvölker. Ab 1951 trat Manfred Rauschert eine Reihe von Expeditionen an, seit 1954 u. a. auch im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Hessen. Diese Reisen bildeten den Ausgangspunkt für seine Forschungstätigkeit, die sich über insgesamt beinahe fünf Jahrzehnte erstreckte und das Leben und die Kultur des südamerikanischen Tieflandvolks bis in die heutige Zeit auf einzigartige Weise dokumentiert. Sein Nachlass, die »S ammlung Rauschert«, umfasst annähernd 3000 ethnographische Objekte sowie tausende bislang unveröffentlichter Fotografien, Fotoserien und Filme.
Im Gegensatz etwa zu den Yanomami haben die Aparai-Wajana bis heute noch nicht den Weg ins Bewusstsein der breiten europäischen Öffentlichkeit gefunden. In Fachkreisen sind sie hingegen bekannt für ihr herausragendes Kunsthandwerk. Heutzutage fertigen sie ihre traditionellen Kunstgegenstände allerdings zum Großteil für den Export, wobei die mythische Bedeutung mehr und mehr in Vergessenheit gerät, da die alten Riten infolge der christlichen Missionierung nur noch selten praktiziert werden. Flecht- und Töpferwaren, Perlen- und Federschmuck, geschnitzte Pfeile und Paddel, aber auch mit mythischen Tierfiguren bemalte Gegenstände jeglicher Art haben ihren Weg in die Touristenläden und Galerien der Welt gefunden, während die eigene Kultur und damit die eigene Identität zunehmend schwindet.
Heute leben in ganz Amazonien – dem größten Regenwaldgebiet der Erde, das sich über eine Fläche von sieben Millionen Quadratkilometern erstreckt – noch schätzungsweise 300 Indianerstämme, insgesamt etwa eine halbe Million Menschen. Davon allein in Brasilien laut Angaben von Survival International an die 350 0 00 Indianer in über 200 verschiedenen Völkern. Viele davon sind durch die fortschreitende Umweltzerstörung, die massive Abholzung der
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