Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
für Tag, mit jedem Baum, der gefällt, mit jedem Fluss, der durch Quecksilber vergiftet oder künstlich aufgestaut wird, mit jedem Meter Erde, der auf der Suche nach Bodenschätzen aufgerissen wird. All dies wird noch verstärkt durch gedankenlose christliche Missionare, denen es gleichgültig ist, dass durch ihren religiösen Bekehrungseifer uralte Riten und Stammestraditionen ausgelöscht werden. Und auch die moderne Medizin, in den Augen vieler ein Segen, trägt in gewisser Weise dazu bei. Mit ihrer Fortschrittsfixiertheit hat sie es versäumt, das über Jahrtausende zusammengetragene Wissen der Medizinmänner und Schamanen ernst zu nehmen und entsprechend zu nutzen. Dabei ist die einzigartige Vielfalt der Urwaldpflanzen nicht nur ein ökologischer Schatz, sondern auch ein medizinischer, der nicht annähernd gehoben ist. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, den Forscher und Mediziner zu verlieren drohen. Steckt doch gerade in diesen Pflanzen das Potenzial, so manche Zivilisationskrankheiten zu lindern oder gar zu heilen. Ihr Verschwinden ist ein unwiederbringlicher Verlust für die gesamte Menschheit. Mit jedem Baum, der im Regenwald gefällt wird, legen wir die Axt auch an uns selbst. Und mit jedem Ureinwohner, der getötet oder aus seiner Heimat vertrieben wird, verlieren wir letztlich ein Stück unseres kulturellen Erbes.
In den 1970 er Jahren war freilich noch nicht abzusehen, wie schlimm es einmal kommen würde. Auch wenn sich das Unheil bereits ankündigte. Nicht zuletzt durch das gigantische Straßenbauprojekt Transamazônica: Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde eine Trasse quer durch den gesamten Amazonas-Raum geschlagen, von Brasilien bis nach Peru. Sie sollte eines Tages die Atlantik- und die Pazifikküste Südamerikas ungefähr auf der Höhe des Äquators miteinander verbinden. Bereits fertiggestellte Teilstücke sind heute längst überwuchert, es ist fraglich, ob das Projekt jemals vollendet werden wird. Den Preis für diesen Wahnsinn zahlten indes die Ureinwohner. Sie wurden vertrieben, umgesiedelt oder schlichtweg umgebracht. Ein Völkermord, auf dessen Aufklärung die Regierungen in den meisten Fällen verzichteten.
Von diesen bedrohlichen Entwicklungen bekamen wir in unserem Dorf im Urwald allerdings nur am Rande etwas mit. Als ich viele Jahre später erfuhr, dass zehntausende Indianer allein wegen der Transamazônica ihr Leben lassen mussten, dass viele erschossen, gewaltsam vertrieben und heimtückisch mit arsengetränkten Zuckerwürfeln vergiftet wurden, nur damit eine Straße quer durch ihre Gebiete gebaut werden konnte, überfiel mich tiefe Traurigkeit. Die Wenigen, die überlebten, flohen in die Städte, wo sie meist ein trostloses Dasein fristeten. Ihre Kindeskinder wuchsen entwurzelt auf, ohne eine Vorstellung von der großartigen Kultur, die ihre Vorfahren einst hatten. Sie werden nicht mehr das Glück haben, inmitten der unversehrten Natur Amazoniens aufzuwachsen. So wie ich als Kind.
Es wäre allerdings zu einfach, die Zivilisation pauschal zu verdammen und das ursprüngliche Leben der Indianer zu verklären. Beide Lebensweisen erscheinen mir zu unterschiedlich, als dass man sie wirklich miteinander vergleichen könnte. Auch wenn ich die ersten Jahre meiner Kindheit am Amazonas in strahlender Erinnerung bewahre, so ist mir bewusst, dass es während unseres Aufenthalts immer wieder Situationen gab, die meine Eltern an ihre Grenzen brachten. Das Leben im Urwald ist reich und schön, doch manchmal auch voller Entbehrungen und Gefahren. Ein Dasein ohne Rückversicherung und ohne jeglichen Komfort. Für mich aber war die Zeit bei den Aparai-Wajana die außergewöhnlichste Zeit in meinem Leben. Noch heute gibt es mir Kraft, wenn ich in schwierigen oder scheinbar ausweglosen Situationen an die Weisheit und die Zufriedenheit dieser Menschen denke, deren Lebensweise meine frühe Kindheit so entscheidend geprägt hat. Denn bei den Aparai-Wajana erlebten wir, dass Glück und Zufriedenheit nicht von modernen Errungenschaften und Wohlstand abhängen müssen. Vielleicht lohnt es sich gerade deshalb, einmal innezuhalten und zu hinterfragen, ob wir nicht mehr an Lebensqualität und Freude gewinnen, wenn wir uns nicht länger zu Sklaven eines Wachstumsstrebens machen, dessen Auswirkungen unseren Planeten längst an den Rand des Kollaps gebracht haben.
Das Leben in Mashipurimo kannte keine Eile, kaum Hektik, kein Burnout-Syndrom und nur selten schlechte Laune. Und vor allem keine Einsamkeit.
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