Das Mädchen von San Marco (German Edition)
hat nur ihren Namen genannt, Eufemia.« Ungehalten starrte er Carew an. »Und sie hatte keinen Schönheitsfleck.«
Sie waren gerade dabei, in einen kleinen campo einzubiegen, als Carew spürte, wie Prospero ihn am Ärmel zog.
»Wartet einen Moment, Engländer«, hörte er die Stimme des Alten dicht neben sich, »geht da nicht hin.«
Von der anderen Seite des campo näherte sich ihnen mit langsamen Schritten ein maskierter Mann. Er hielt einen langen Stock in der Hand und war trotz der sommerlichen Hitze in einen Mantel gehüllt, der bis zum Boden reichte und dessen Stoff so steif war, als wäre er in Teer oder Wachs getaucht worden. Die Maske stellte einen Vogelschnabel da, einen Raben oder eine Krähe. Ein Unglücksvogel, daran bestand für Carew kein Zweifel.
Die Ungeduld trieb ihn voran, aber Prospero hielt ihn am Ärmel fest.
»Was ist los mit Euch, Engländer?«, flüsterte er aufgeregt. »Wollt Ihr sterben? Erkennt Ihr einen Pestarzt nicht?« Zitternd deutete er auf die finstere Gestalt. »Dann ist die Pest also doch in der Stadt! Es hieß, sie würde kommen!« Prosperos Stimme bebte vor Angst. »Es wäre Wahnsinn, durch dieses Viertel zu gehen.«
»Ich muss aber. Ich will meine Sachen holen.«
»Hört auf meinen Rat. Lasst sie dort. Ihr solltet nicht in Eure Unterkunft zurückkehren.«
»Aber mein Schiff segelt in ein paar Tagen. Es dauert nicht lange.«
Prospero seufzte. »Dann kommt mit, rasch, ich zeige Euch einen anderen Weg. Er ist sicherer.«
Schweigend gingen sie weiter. Carew folgte nun Prospero, der überraschend flink durch die Gassen eilte. Sie waren fast menschenleer, und auch zahlreiche Häuser – die brüchigen Behausungen der Armen – wirkten unbewohnt. Ihre groben Holzläden waren gegen den Brodem von Krankheit und Seuche verbarrikadiert. Selbst Carew nahm die seltsam drückende Atmosphäre wahr. Angst und Krankheit schienen an seiner Haut zu kleben wie Schweiß.
Irgendwo in der Nähe rief das klagende Gebimmel der Kirchenglocken zu einer Totenmesse. Dann bogen sie um eine Ecke und fanden sich vor einem zweiten, viel größeren campo wieder. Obwohl in der Mitte eine Kirche stand, wirkte der Platz schäbig, fast verwahrlost. Unkraut wucherte zwischen den Pflastersteinen. Im Gegensatz zu den meisten Kirchen der Stadt war diese schlicht und schmucklos – eine arme Kirche für arme Leute.
Vor der Pforte hatte sich eine merkwürdig zusammengewürfelte Gruppe versammelt. Eine blasse Frau mit zwei kleinen Mädchen, zwei weitere Frauen und daneben ein Riese von Mann, der eine kleine, rechteckige Kiste trug. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Carew begriff, was es war: ein Kindersarg.
Als Prospero der Trauergesellschaft ansichtig wurde, blieb er abrupt stehen.
»Bis hierhin konnte ich Euch begleiten, Engländer, weiter nicht. Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch umkehren wollt? Ihr solltet hier nicht bleiben. Es ist zu unsicher.«
»Macht Euch um mich keine Sorgen, Prospero. Ich muss ohnehin zu Constanzas Haus zurück, ich werde mich nicht lange aufhalten.«
»Nun gut, dann geht unter diesem portego hindurch und den Kanal entlang, bis Ihr auf das Ospedale degli Incurabili stoßt …«
Aber Carew achtete nicht auf Prosperos Erklärungen. Sein Blick war unverwandt auf die kleine Menschenansammlung gerichtet.
»Hört Ihr mir zu? Ich sagte …«
»Ich weiß, was Ihr gesagt habt. Aber seht doch da drüben … das kann doch nicht sein … Ist das Ambrose? «
Carew deutete auf einen der beiden Männer, die am anderen Ende des campo standen und ebenfalls die Gruppe mit dem Sarg beobachteten. Der zweite Mann trug einen großen Lederranzen über der Schulter.
»Fragt mich nicht, ich bin ein alter Mann. Wie soll ich so weit sehen können?«
»Himmelherrgott, dieser Mann ist einfach überall!«, rief Carew aus. »Wie macht er das? Vor ein paar Minuten habe ich ihn noch bei Constanza gesehen.«
»Nun, so lebt wohl. Ich nehme nicht an, dass wir uns wiedersehen werden.« Prospero wandte sich ab und trat den Rückweg an, doch dann fiel ihm noch etwas ein. Er blieb stehen und rief Carew zu: »Eines noch, Engländer …«
»Was?«, erwiderte Carew, schon halb auf dem Platz.
»Die monarche . Ich weiß jetzt wieder, dass sie gesagt hat, sie käme von einem Inselkloster, wisst Ihr, das mit dem botanischen Garten …«
Hatte Carew ihn gehört? Er war sich nicht sicher. Der Engländer lief wie gehetzt über die unebenen Pflastersteine davon. Es würde Ärger geben, das spürte Prospero in
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