Das Mädchen von San Marco (German Edition)
englischen Aussprache bezwingend herrschaftlich. Seine Worte durchschnitten das Gemurmel des Volkes mit eisiger Autorität. »Wir alle wissen, was Zigeuner tun, nicht wahr?«, fuhr er fort. »Sie lügen. Sie betrügen. Und sie stehlen …«
»Sie stehlen Kinder!«, rief ein Mann mit einem Kropf, »das wissen alle.«
»Richtig.« Ambrose zwirbelte das Tuch zwischen den Fingern. »Und Säuglinge auch, möchte ich meinen.«
Er wartete ein paar Sekunden, bis seine Behauptung sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hatte.
»Wer weiß, ob dieses Kind – wenn wirklich eines in der Kiste liegt – überhaupt ihnen gehört.«
Mit theatralischer Geste drückte er das Tuch wieder an die Nase. In der nun folgenden Pause breitete sich auf dem Platz ein gespanntes Schweigen aus.
»So verratet uns denn«, sprach Ambrose schließlich weiter, »wer von euch beiden die Mutter ist?« Er fixierte erst Elena und dann Maryam. Aller Augen waren auf die Frauen vor der Kirchenpforte gerichtet. Als keine von beiden antwortete, ergriff Ambrose wieder das Wort. Kopfschüttelnd seufzte er: »Keine. Ja, das habe ich mir gedacht.«
Die Zuschauer reagierten mit einem unwilligen Gemurmel, in das sich unterschwelliger Zorn mischte.
»Zigeuner bringen nichts als Schmutz und Krankheit!« Ambrose wusste, dass er die Menge nun auf seiner Seite hatte, und ging noch einen Schritt weiter: »Wer weiß, vielleicht sogar … die Pest!«
»Madonna! Was hat er gesagt?« – »Hat er gesagt, die Pest?« – »Ja, die Pest, die Pest …« – »Also war es tatsächlich der Pestarzt, den wir gesehen haben!«
Furcht und Wut lagen in der Luft. Maryam konnte beides förmlich riechen, sie hatte fast das Gefühl, der Geruch breite sich in Schwaden um sie herum aus. Wieder spürte sie diesen Druck auf der Brust. Sie bekam kaum noch Luft.
»Ja, so ist es, die Pest!« Ambrose blickte triumphierend in die Runde. »Warum verschwendet ihr euer Mitgefühl an dieses Gewürm? Wo doch sie – diese dreckigen Zigeunerinnen hier – die schreckliche Plage zu euch gebracht haben!«
Mitgerissen von seinen eigenen rhetorischen Fähigkeiten, geriet Ambrose immer mehr in Fahrt. Aber halt! Was war das? Eine wohlbekannte englische Stimme sagte ihm etwas ins Ohr.
»Zigeunerinnen? Die Zigeuner, die ich kenne, sehen aber anders aus, Mr Ambrose.«
Ambrose fuhr herum. Als er Carew erkannte, blieb ihm der Mund offen stehen.
»Ihr seid das! Warum müsst Ihr Euch immer hinterrücks an einen heranschleichen?«
»Wer tut hier etwas hinterrücks, Mr Ambrose?«
Carew scherte sich nicht im mindesten um die Frauen oder ihr totes Kind, aber er begriff genau, was Ambrose vorhatte.
»Diese Frauen sind keine Zigeunerinnen!«, rief er der Menge zu. »Sehen sie aus wie die Zigeuner, die ihr kennt?« Er blickte in die angstverzerrten Gesichter der Zuschauer.
»Warum hört ihr ihm überhaupt zu?« Er deutete mit dem Finger auf Ambrose. »Er ist ein Ausländer, ein Fremder. Wer sagt, dass nicht er es war, der die Pest mitgebracht hat?«
»Carew!« Ambrose fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Seid Ihr verrückt geworden? Ja, so muss es sein. Ich glaube, Ihr seid geisteskrank …«
Ambroses elegante Kleidung und sein souveränes Auftreten hatten die Menschen eingeschüchtert und ihnen Achtung eingeflößt, aber bei Carew merkten sie instinktiv, dass er einer von ihnen war. Zu Ambroses Ärger hörten sie ihm gespannt zu.
»Ich kenne diesen Mann«, fuhr Carew fort, auf den immer nervöseren Ambrose deutend, »und wenn jemand ein Lügner und Betrüger ist, dann er.«
»Carew!« Ambrose senkte beschwörend die Stimme. »Was tut Ihr da? Sie werden uns in Stücke reißen …« Er warf einen angstvollen Blick auf die Umstehenden.
Aber Carew legte nur die Lippen an sein Ohr und säuselte: »Wenn sie es nicht tun, dann mache ich es. Und das ist nur die Vorspeise.«
»Was? Was maßt Ihr Euch an? Ich werde mich bei Pindar beschweren. Ich sorge dafür, dass Ihr ausgepeitscht werdet, dass man Euch kielholt …«
Carew ignorierte ihn. »Warum habt Ihr die Nachricht nicht an mich weitergegeben?«
Ambrose starrte ihn verständnislos an. »Welche Nachricht? Ich weiß nicht, was Ihr –«
»O doch, das wisst Ihr sehr gut«, unterbrach Carew ihn kalt. »Warum habt Ihr mir die Botschaft nicht ausgerichtet, Ambrose? Ich glaube, Constanza hat Euch von Anfang an richtig eingeschätzt. Ihr kennt die Geheimnisse von allen, nicht wahr? Aber keiner von uns weiß wirklich, auf welcher Seite
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