Das Mädchen von San Marco (German Edition)
mehr Glück als bisher.« Gelangweilt streckte der alte Mann die Arme über den Kopf, doch Paul hörte den Spott in seiner Stimme. »Aber nicht heute Nacht, oder was meint Ihr, mein Herr?«
Die dichte Menge von Zuschauern, die sich zu Beginn des Spiels um sie versammelt hatte, war bald auf eine Handvoll Unermüdlicher geschrumpft. In seinem angestrengten Bemühen, sich auf das Spiel zu konzentrieren, seine Gegner zu durchschauen und die eigene Taktik zu verbergen, nahm Paul sie kaum war. Aus der Ferne war leises Glockengeläut zu hören, ein hohler, blecherner Klang, der sich mal entfernte und mal näher kam. Brach bereits der Morgen an? Paul versuchte sich auszumalen, wie die Dämmerung die Lagune erhellte und wie schön das war: die erste köstliche Morgenbrise nach einer langen, schwülen Nacht. Unter den Fenstern die sich sanft kräuselnde Wasseroberfläche, die im ersten Licht klar und blau erglänzte …
Doch die Vision verging schnell. Es gab keine andere Welt als diese hier, und er wollte auch keine andere. Als er aufblickte, stellte er überrascht fest, dass die sechs Spieler den großen Raum nahezu für sich hatten. Die fieberhafte Ausgelassenheit der Zuschauer war einer matten Teilnahmslosigkeit gewichen. Es hatte den Anschein, als seien sogar die Spieler selbst gelangweilt. Zuanne Memmo döste in einem Sessel. Der junge Adlige las in einem schmalen, in Leder gebundenen Gedichtband und warf nur hin und wieder einen prüfenden Blick auf seine Karten. Paul wäre fast auf diesen Trick hereingefallen, hätte er nicht instinktiv gespürt, dass er beobachtet wurde, und gelegentlich einen scharfen Blick aufgefangen, der zwischen den Spielern hin und her huschte und sehr oft auf ihm, Paul, ruhte. Da versuchte jemand, sein Blatt zu ergründen, ihm die Gedanken aus dem Hirn zu saugen wie das Mark aus einem Knochen.
Jeder von ihnen spielte Theater, auch wenn es den Außenstehenden verborgen blieb. Der Kaufmann zog einen Zettel hervor und vertiefte sich in säuberlich geschriebene Zahlenkolonnen. Irgendwann wurde Paul gewahr, dass der ältere Adlige mit dem Gesicht nach unten über dem Tisch zusammengesackt war – nicht tot, wie Paul erst dachte, sondern vom Schlaf übermannt. Nur der Mann mit der goldenen Maske schien sich rundum wohl zu fühlen. Er sprach nur, wenn es unbedingt nötig war.
Zunächst war Paul fasziniert von diesem stummen Spieler in ihrer Mitte. Obwohl er sein Gesicht nicht sehen konnte, wurde ihm schnell klar, dass der Mann älter sein musste, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Irgendetwas an ihm – die Art, wie er saß oder wie er die Karten mischte – kam Paul vertraut vor. Wahrscheinlich hatte er schon einmal gegen ihn gespielt, im Zeichen des Pierro oder einem der anderen ridotti, die er in den letzten Monaten so oft aufgesucht hatte.
Zu Beginn hatte er versucht, sich die charakteristische Spielweise jedes einzelnen seiner Gegner einzuprägen. Am leichtesten zu durchschauen waren der Kaufmann und der ältere Adlige. Der eine war übervorsichtig und stand zu sehr unter Spannung, der andere machte zu viel Wind. Paul wusste von Anfang an, dass beide keine echte Bedrohung darstellten. Der junge Adlige hingegen erwies sich als mit allen Wassern gewaschener, raffinierter Spieler, der keineswegs so unbesonnen war, wie Paul es von einem Mann seines Alters und Standes erwartet hätte.
Alle fühlten sich durch die Anwesenheit der Kurtisane gestört.
»Was habt Ihr damit bezweckt, dass Ihr diese Frau zugelassen habt, Zuanne?«, beschwerte sich der Adlige, als die Dame sich einmal kurz entfernt hatte.
»Was hätte ich tun können? Sie hat die Bürgschaft geleistet.« Memmo zuckte bloß die Schultern. »Kein Gesetz verbietet es, Monsignore.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem künstlichen Lächeln. »Der Rat in seiner unendlichen Weisheit hat beinahe zu jedem Thema eine parte verfasst – aber dazu nicht. Oder noch nicht, wenn Eure Eminenz mir die Bemerkung erlauben.«
»Nun, das ist ein Versäumnis«, klagte der Adlige, »jemand sollte dafür Sorge tragen, dass dies anders wird.«
In dem Spielsaal, in dem es zwischendurch etwas abgekühlt war – was Paul der frühmorgendlichen kühlen Brise zuschrieb –, wurde es wieder heiß. Die Kerzen in den goldenen Wandlüstern zischten in der stickigen Luft. Die Männer hatten ihre Oberbekleidung bis auf die Baumwollunterhemden abgelegt. Die Kurtisane hatte ihren äußeren Rock und ihren Kragen, ja sogar die Ärmel ausgezogen und
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