Das Mädchen von San Marco (German Edition)
bestickten Pantoffeln zu tragen. Ihr bestes camice war glücklicherweise aus dem feinsten Leinen genäht und so dünn, dass es fast durchsichtig war – man habe das Gefühl, Luft auf der Haut zu tragen, hatte sie einmal zu Eufemia gesagt. Am Hals und an den Ärmeln war es mit modischer schwarzer Spitze gesäumt. Über ihr camice zog sie das neue Mieder. Es war schlichter im Schnitt, als sie es gern gehabt hätte, aber immerhin am Ausschnitt mit einer doppelten Reihe point de Venise gesäumt. Annetta schnürte das Mieder am Rücken selbst, so gut es ging, und zog das Dekolleté so tief herunter, wie sie es wagte, wodurch sich ihre wohlgeformten Brüste deutlich abzeichneten. Sie hätte eine der converse , der Laienschwestern, rufen sollen, die das Mieder normalerweise schnürten und ihr auch sonst zur Hand gingen, aber es war ihr lieber, wenn keine putte in ihrem Zimmer herumschnüffelte. Zuletzt dann das Glanzstück: ein von Goldfäden durchzogener Unterrock, den sie mit Haken am Mieder befestigte. Er war so schön, dass ihr das Herz blutete, wenn sie ihn unter ihrem Alltagskleid verstecken musste. Sie betrachtete die Trippen – sechs Zentimeter hoch und mit Perlmutt besetzt –, die sie aus Konstantinopel nach Venedig mitgebracht hatte, aber sie entschied sich dagegen und tauschte sie im letzten Moment gegen eine Paar Pantöffelchen aus Brotkatstoff ein.
Zuletzt widmete sich Annetta ihrer Frisur. Sorgfältig zog sie rechts und links an den Schläfen zwei Haarsträhnen unter der Haube hervor, die sie routiniert mit etwas Spucke auf den Fingerspitzen zu Ringellöckchen formte. Als Halsschmuck trug sie zwei schwere Goldketten. Um die Hüften legte sie einen Kettengürtel, an dessen Ende ihr Fächer und ein Gebetsbuch baumelten.
Aus einer winzigen Nische am Kopfende des Bettes holte Annetta einen runden Gegenstand, der in ein altes Tuch eingewickelt war. Vorsichtig zog sie daraus ein gerahmtes, silberbeschichtetes Glas hervor und hielt es hoch, damit sie ihr Aussehen begutachten konnte. Es war strengstens verboten, einen Spiegel zu benutzen, aber was ging das sie an? Sie hatte in ihrem kurzen, aber ereignisreichen Leben schon genug Regeln kennengelernt und die Nase voll davon. Selbst im Harem war es ihr gelungen, mit ihrer Freundin Kaya, die eigentlich Celia hieß und Engländerin war, Geheimnisse zu haben. Aber daran wollte Annetta jetzt nicht denken, heute war kein Tag für Traurigkeit. Sie hielt den Spiegel so, dass sie sich schräg von der Seite betrachten konnte. Die Sünde der Eitelkeit, hieß es, sei schlimmer als alle anderen Sünden. Nun, sie hatte in letzter Zeit einige begangen und konnte sie auch aufzählen: Sie hielt einen Spatz als Haustier im Zimmer, ganz zu schweigen von den Hühnern in dem Weidenkäfig vor der Tür. Aber das taten die anderen Nonnen auch, damit sie immer frische Eier hatten. Außerdem trug sie Seide und Brokat und schmückte sich mit goldenen Ketten. Sie besaß die liederliche Angewohnheit, nackt am Fenster zu stehen und andere zu sündigen Gedanken zu verleiten. Aber die Sünde der Eitelkeit, fand sie, als sie den Spiegel hochhielt, war doch bei weitem die befriedigendste. Und so betrachtete sich Suor Annetta, bald Nonne des Klosters Santa Clara, auch weiterhin mit ungetrübtem Vergnügen im verbotenen Spiegel. ›Ein dürres Ding mit schwarzen Haaren‹ hatten die Nonnen sie früher abschätzig genannt. Sollten sie doch staunen, was aus ihr geworden war! Sie war zwar nicht schön oder gar edel, aber sie konnte schnell und scharf denken und seit ihrem unfreiwilligen Aufenthalt im Harem des Großtürken wusste sie einiges über die Kniffe, mit denen sich Frauen in allen Lebenslagen behaupten konnten.
Irgendwann mussten die Glocken aufgehört haben zu läuten, denn plötzlich fiel Annetta auf, dass sie wieder anfingen. Sie war bestimmt schon spät dran. Deshalb nahm sie nun den letzten Gegenstand vom Bett, ein Beutelchen aus besticktem rosenfarbenem Samt, und schob ihn tief in die Tasche ihres Gewandes. Dann schlenderte sie in aller Ruhe nach unten, um sich zum Gebet zu ihren Mitschwestern zu gesellen.
Kapitel 6
Als Paul erwachte, wusste er ein paar Sekunden lang nicht, wo er sich befand. Er lag in einem Himmelbett in einem Raum mit hoher Decke. Die Wände waren mit geprägtem Leder bespannt und vor dem Fenster hingen schwere Damastvorhänge, um das Tageslicht auszusperren. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht allein war. Am Fußende des Bettes stand jemand und schaute auf
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