Das Mädchen von San Marco (German Edition)
nicht mehr geschlafen. Und ich würde jetzt einschlafen und bis in alle Ewigkeit weiterschlafen, dachte sie, mit Freude schlafen und nie wieder erwachen, wenn du, mein Geliebter, an meiner Seite wärst. Aber diese Worte sprach sie nicht aus. Nach einer Weile murmelte sie schläfrig: »Was wirst du jetzt tun? Wegen Ambrose, meine ich.«
»Mach dir keine Sorgen wegen Ambrose. Um Carew muss ich mich kümmern.« Seine Finger in ihren Haaren verkrampften sich unwillkürlich, und Constanza verzog das Gesicht.
»Carew liebt dich …«
»Ach was! Das Einzige, was Carew liebt, ist Carew.«
Sie schwiegen für eine Weile.
Constanza wagte einen neuen Anlauf. »Er denkt, du seist halb verrückt vor Kummer.«
»So, sagt er das?«
»Halb verrückt vor Kummer und Wut.«
Paul erwiderte nichts.
»Wegen dieses Mädchens, das du in Konstantinopel zurückgelassen hast.«
»Carew ist mein Diener«, sagte Paul leise. »Was weiß er denn von solchen Dingen?«
»Du wirst es nicht glauben – er hat hier die ganze Nacht auf dich gewartet. Ich denke nicht, dass er dich beschämen wollte. Ich glaube, er möchte dich retten.«
»Er will nur seine picklige Haut retten. Wenn ich ruiniert bin, verliert er seinen Lebensunterhalt, das ist eine einfache Rechnung. Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Wo steckt er überhaupt?«
»Bei einer Hochzeitsgesellschaft, die zur Giudecca oder einer dieser Inseln hinausfahren wollte. Ich erinnere mich nicht genau. Zu einem Kloster, glaube ich.« Constanza unterdrückte ein Gähnen.
»Eine Hochzeitsgesellschaft?«
Sie zuckte die Achseln. »Es ging um ein Mädchen.«
»Es geht immer um ein Mädchen«, murmelte Paul schläfrig.
Mit dem Kopf auf seiner Brust lauschte Constanza Pauls Atem, spürte, wie seine Hand auf ihrem Haar schwer wurde. Dann schlief auch sie ein.
Er musste lange geschlafen haben, denn als Paul erwachte, war sein Kopf wieder klar und nur die Blase drückte. Jemand hatte die Vorhänge geschlossen, sodass nur durch einen schmalen Spalt zwischen Fenster und Stoff ein Lichtstrahl ins Zimmer drang. Nach der Helligkeit zu urteilen, war es schon spät, bestimmt nach zwölf. Normalerweise wäre um diese Zeit Constanzas Zimmermädchen längst erschienen, hätte die Vorhänge zurückgezogen, die leeren Gläser und die Hühnerknochen weggeräumt und frische Tücher und heißes Wasser gebracht, damit sich ihre Herrin waschen konnte, denn Constanza achtete sehr auf Reinlichkeit. Aber niemand war gekommen. Wahrscheinlich hatte sie Anweisungen gegeben, dass sie nicht gestört werden wollte. Paul betrachtete die schöne Kurtisane von der Seite. Doch irgendwo am Rand seines Bewusstseins lauerte ein unerfreulicher Gedanke, den er nicht recht zu fassen bekam, und das beunruhigte ihn. Er lauschte angestrengt auf die üblichen Geräusche der Dienstboten in den anderen Teilen des Palazzo, geflüsterte Ermahnungen vielleicht, ein Knarren der Diele, ein umgestoßener Eimer, aber nichts regte sich. Die Stille rauschte in seinen Ohren. In der Ferne schlug eine Kirchenglocke ein Uhr.
Ob Carew wohl noch bei der Hochzeit war? Was hatte der Kerl eigentlich in einem Kloster zu suchen?, dachte Paul flüchtig, aber er wollte jetzt nicht über Carew nachgrübeln, das verdarb ihm nur die Laune.
Er blickte sich im Zimmer um. Am Fußende des Bettes stand das Tischchen mit dem türkischen Teppich, darauf ein leeres Weinglas und ein Päckchen Tarotkarten. Die Bildteppiche an der Wand waren mit gemalten und geprägten Blumenmustern und Paradiesvögeln verziert und trugen an den Rändern Blattgoldornamente. Sein Blick fiel auf eine hellere Stelle an der Wand über einer der Truhen. Er erinnerte sich, dass dort einmal ein riesiger Spiegel mit einem reich beschnitzten und vergoldeten Rahmen gehangen hatte, und fragte sich, wohin Constanza ihn hatte bringen lassen.
Als sehr junger Mann hatte er dieses Zimmer zum ersten Mal betreten, und es hatte sich seit damals nicht wesentlich verändert. Der Raum und Constanza gehörten unwiderruflich zusammen. Keine Madonna hätte sich einen opulenteren Altar wünschen können. Er erinnerte sich noch gut an die fast unerträgliche Anspannung bei seinem ersten Besuch. Er hatte ein fast überirdisches Wesen erwartet, ein mythologisches Geschöpf, eine Sirene oder Sphinx – zu kostbar für die Augen der Sterblichen.
Doch zunächst hatte Constanzas Mutter – in ihrer Jugend selbst eine der berühmtesten Kurtisanen Venedigs – sie willkommen geheißen und ihnen Süßigkeiten und
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