Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Sultans lebte, gab es dort jemanden, an den du mich erinnerst.«
»Wer war das?«
»Ach«, seufzte Annetta traurig, »ein englisches Mädchen. Sie nannten sie Kaya, aber das war nicht ihr wirklicher Name.«
Aus dem Flur, auf dem die Nonnen ihre Hühner in Weidenkörben hielten, damit sie immer frische Eier zur Verfügung hatten, erklang hin und wieder ein unleidiges Gegacker.
»Weißt du, es ist merkwürdig. Als ich vor Jahren selbst eine conversa war wie du und in den kleinen Räumen hinter der Küche schlief, dachte ich, dass die Chorschwestern, die hier wohnen, schrecklich vornehm untergebracht sind. Aber jetzt …« Annetta musste lächeln. »Mit diesem ganzen Federvieh kommt es mir vor, als wohnten wir alle im Hühnerstall.«
»Psst!« Eufemia legte den Finger an die Lippen. »Die alte Suo’ Virginia wird dich noch hören!«
»Suor Virginia? Die doch nicht. Manchmal glaube ich, hier kann man sich alles erlauben.«
»Du hast mir mal erzählt, dass es in diesem Harem mehr Regeln gab.«
»Oh ja, viel mehr Regeln. Man durfte in Gegenwart des Sultans ohne Erlaubnis nicht mal den Mund aufmachen. In Gegenwart seiner Mutter auch nicht. Und überall waren Wächter postiert.«
»Die Beschnittenen?«
»Die Eunuchen, ja. Schwarze und weiße«, flüsterte Annetta bedeutungsvoll, weil sie genau wusste, wie sehr Eufemia dieses Thema liebte.
»Schwarze Männer, und beschnitten dazu!« Annetta spürte, wie ein Schauer das Mädchen überlief.
»Wie sahen sie aus?«, fragte Eufemia aufgeregt im Flüsterton.
»Männer ohne testicolos? « Annetta schnaubte verächtlich. »Die meisten waren fett, als wäre ihnen die Brust in den Bauch gerutscht. Puh! Und sie hatten eine merkwürdige Art zu sprechen.« Sie ahmte die hohe Falsettstimme der Eunuchen nach. »Und trotzdem mochten einige der Mädchen sie sehr und haben sich in sie verliebt. Ein Mädchen hat sogar einen geheiratet, nachdem sie den Harem verlassen hatte.«
»Aber ihr wart doch alle Gefangene, oder nicht?«
»Ja, das stimmt. Dennoch gingen immer wieder mal Mädchen aus dem Harem fort. Wenn sie nicht gut arbeiteten oder man annahm, dass sie dem Sultan nicht gefallen würden, wurden sie freigelassen. Was glaubst du denn, wie es bei mir abgelaufen ist? Ich bin schließlich auch nicht über die Haremsmauer gehüpft.« Annetta lächelte. »Wir waren alle Sklavinnen, das ist richtig, und samt und sonders christliche Mädchen. Jede von uns hatte ihre Geschichte, wie sie in den Harem gekommen war. Meine Freundin Kaya und ich, wir wurden von Korsaren verschleppt, die in der Adria unser Schiff angriffen. Ich reiste mit anderen Nonnen aus dem Kloster Santa Clara, wir waren auf dem Weg zu unserem Ordenskloster in Ragusa – du hast vielleicht davon gehört?« Sie spürte, wie Eufemia nickte und die Arme etwas fester um sie schlang. »Wir machten die Überfahrt auf einem englischen Schiff, einem Handelsschiff, dessen Kapitän sich bereit erklärt hatte, auf dem Weg nach Konstantinopel in Ragusa anzulegen. Doch die Türken griffen uns an und warfen die anderen Schwestern über Bord. Das Schiff war auf Fels aufgelaufen und sank sowieso, deshalb hätten sie uns nicht alle mitnehmen können, selbst wenn sie gewollt hätten, und der Kapitän und seine Männer waren auch schon tot. Auch Kayas Vater hatten sie ermordet.« Annettas Stimme war keine Gefühlsbewegung anzumerken. »Aber Kaya und mich nahmen sie mit, und schließlich endeten wir im Haus der Glückseligkeit.«
»Eine Sklavin unter Ungläubigen! Unsere Liebe Frau beschütze uns! Es wäre besser gewesen, wenn du auch ertrunken wärst!« Unter Eufemias frommen Worten brodelte die Erregung.
»Was für ein Unsinn! Als conversa ist es mir schlechter ergangen als dort, das kannst du mir glauben!«
»Wie bist du dann entkommen?«
»Ich bin nicht entkommen, Dummerchen. Als die Valide starb, wurden ihre Kammerdienerinnen freigelassen, und ich gehörte dazu.«
»Die Valide?«
»Die Mutter des Sultans.«
»Ich verstehe. Und dann?«
»Manche Frauen wollten bleiben, andere erhielten eine Mitgift und heirateten. Jede Frau, die im Haus der Glückseligkeit eine Ausbildung genossen hatte, galt als gute Partie, musst du wissen.«
Eufemia kicherte. »Und hättest du auch gern einen Ehemann gehabt?«
»Bist du verrückt?«, entgegnete Annetta mit vernichtendem Sarkasmus. »Einen dickbäuchigen alten Pascha, dem ich zu Diensten sein muss? Auf keinen Fall! Als ich noch sehr jung war, wollte mich meine Mutter einmal an einen
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