Das Mädchen von San Marco (German Edition)
wachgerüttelt.
»Was …? Wer ist da?«
»Du hast im Schlaf geredet, suora .«
»Eufemia, was machst du denn hier?«
Selbst in ihrem schlaftrunkenen Zustand erkannte Annetta die kleine conversa an ihrem unverkennbar muffigen, ungewaschenen Geruch. Eufemias Klostertracht, auch ihre Unterkleider, stammten, anders als die von Annetta, aus dem Gemeinschaftsschrank, der nur selten gereinigt wurde.
»Du hast schon wieder diesen Traum gehabt«, sagte Eufemia in ihrem breiten Dialekt. Ihre dunklen Haare, die man kurz geschoren hatte, waren büschelweise nachgewachsen, was ihr das drollige Aussehen eines Vogelkükens gab. »Lass mich zu dir.« Ohne auf eine Einladung zu warten, kletterte sie über Annetta hinweg und schlüpfte unter die Decke. Sie streckte sich mit dem Rücken zur Wand aus, sodass sie hintereinander lagen wie zwei Löffelchen in einem Besteckkasten.
Wie es die Klosterregel verlangte, stand die Tür zu Annettas Zelle auf, wie die aller Chorschwestern. Schlösser waren nicht erlaubt, und im Flur brannten die ganze Nacht hindurch Kerzen. Suor Virginia, eine der discrete, der ältesten und würdigsten der Klosterschwestern, hatte die Pflicht, stündlich die Runde durch die Zellen zu machen, damit sich unter den jüngsten Nonnen nichts Unschickliches zutrug. Allerdings schlief sie zwei Stunden nach Sonnenuntergang meist so fest, dass, laut Ursia, auch die Trompeten des Jüngsten Gerichts sie nicht geweckt hätten. Dafür sorgte schon das Weinfässchen, das sie in ihrer Zelle aufbewahrte.
»War es wieder dieser Traum?« Annetta spürte, wie Eufemia ihr übers Haar strich.
»Ich denke schon.«
»Kannst du dich nicht erinnern?«
»Nein. Ich kann mich nie erinnern. Ich wache nur auf und habe dieses … Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«
»Ich weiß nicht …« Annetta starrte ins Dunkel und suchte nach den richtigen Worten, mit denen sie die Verlassenheit beschreiben konnte, die sie empfand. Sie war wie etwas Schwarzes, Schweres, das sie niederdrückte. »Es ist, als hätte ich … etwas verloren, das ich nie wiederfinden werde.«
»Jetzt ist alles vorbei, denk nicht mehr dran.«
»Du hast Recht.« Annetta fühlte, wie die Wärme von Eufemias kleinem Körper allmählich auf sie ausstrahlte. »Wahrscheinlich war es nur dieser Nachtisch gestern, kein Wunder, dass man davon schlechte Träume bekommt.«
»Ich hab meinen Suo’ Caterina gegeben, du weißt, wie gern sie Süßes mag.«
»Und ich habe den Rest von meinem Suor Margarettas Katze gegeben, obwohl die weiß Gott schon fett genug ist.« Annetta lächelte. »Hör nicht auf zu kraulen, das fühlt sich angenehm an.« Sie streckte sich ein wenig und suchte eine bequemere Lage auf der dünnen Klostermatratze. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und die vertrauten Konturen ringsum nahmen Gestalt an. Diese Klosterzelle, die sie sich nach ihrer Rückkehr aus Konstantinopel mit Hilfe einer großzügigen, als »Mitgift« bezeichneten Spende erworben hatte, bestand aus zwei Räumen am Ende des Schlaftrakts und war die zweitgrößte im ganzen Kloster. Nur die Äbtissin hatte noch mehr Platz für sich allein. Die Wände waren weiß gestrichen, die hohen Deckenbalken schwarz, aber abgesehen von diesen klösterlichen Merkmalen war der Raum alles andere als spartanisch. An den Wänden standen zwei bemalte Truhen, in denen Annetta ihre Kleider aufbewahrte In der Ecke befand sich eine hohe Vitrine für ihre Teller, Messer und Krüge sowie ihre privaten Vorräte an Speisen und Getränken. Am Fenster schlief ihr Spatz in seinem kleinen Käfig.
»War es in diesem Harem wirklich so anders als hier?«, fragte Eufemia nach einer Weile scheu.
Annetta überlegte. Seit sie wieder in Venedig war, hatte sie über ihre Erlebnisse im Harem fast vollständiges Schweigen bewahrt. Zunächst ohne etwas damit zu bezwecken, denn die Rückkehr in das Kloster – auch wenn sie aus freiem Willen geschehen war – hatte sie mitgenommen und es ihr schwer gemacht, über die Vergangenheit zu sprechen. Doch mit der Zeit war ihr bewusst geworden, dass sie die geheimnisvolle Aura, mit der sie sich durch dieses Schweigen umgab, zu ihrem Vorteil nutzen konnte. In diesem Augenblick allerdings wurde das Bedürfnis, sich einem Menschen anzuvertrauen, plötzlich übermächtig, sei es wegen des Traums oder weil sie in einsamen Momenten die kleine Dienerin noch am ehesten als Freundin betrachtete.
»Weißt du«, hörte sie sich sagen, »als ich im Harem des osmanischen
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