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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katie Hickman
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Gitter, das den Bereich der Nonnen von dem der Besucher trennte, und bog in den Flur ab, der in Richtung Refektorium und Küchentrakt führte. Inzwischen wusste sie, wie der Mann hereingekommen sein musste – durch den Garten natürlich! Wie der andere neulich, der Mann aus der Gondel. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? In der Küche blieb sie schwer atmend stehen. Tatsächlich – die Tür zum Garten stand offen.
    Annetta lief in die Nacht hinaus.
    Nur war es nicht mehr Nacht. Annetta fiel sofort auf, dass der Himmel bereits einige Farbtöne heller war als zu dem Zeitpunkt, als sie sich auf die Suche nach der Quelle der merkwürdigen Geräusche gemacht hatte. Die Pappeln vor einer der Außenwände des Klosters, die sie auch von ihrem Zellenfenster aus sah, ragten als schwarze Silhouetten in einen Himmel, der nicht mehr schwarz und auch nicht mehr dunkelblau war, sondern nun perlmuttfarben schimmerte. Annetta stand zitternd in der kühlen Morgenluft.
    Es roch angenehm nach feuchter Erde und bitteren Kräutern. Irgendwo in den Bäumen zwitscherte ein einzelner Vogel sein Morgenlied.
    Annetta war noch nie bei Tagesanbruch im Garten gewesen. Gewöhnlich läutete die Glocken in den frühen Morgenstunden und riefen die Nonnen zum ersten Gebet, nach dem sich diejenigen, die sich überhaupt die Mühe gemacht hatten aufzustehen, oft mit allerlei Entschuldigungen wieder ins Bett legten. Schwester Virginia war allzu gutmütig und fast jede Ausrede –  Suora, ich habe solche Kopfschmerzen oder Suora, ich habe meine Menses  – fand Gehör. In der Nacht hatte sich der Tau auf den Garten gelegt, und kleine, frostweiße Wassertröpfchen hingen an der Rückseite von Blättern, Blüten und Grashalmen und verwandelten den berühmten Klostergarten in eine traumhafte Märchenwelt, die für Feen und Naturgeister geeigneter schien als für sterbliche Wesen.
    Annetta trat bedächtig, Schritt für Schritt in dieses Feenreich ein und nahm, wie verzaubert von der Schönheit des stillen Gartens, alles in sich auf, ohne zu bemerkten, dass ihre nackten Füße taub vor Kälte waren und der Saum ihrer Leinennachthemds nass um ihre Knöchel hing. Sie schien sich selbst in ein schwebendes Geisterwesen zu verwandeln. Erst tastete sie sich durch die Allee der Lindenbäume, dann an den gestutzten Hecken des Kräutergartens entlang. An deren Ende stand sie schließlich vor dem Karpfenteich.
    Nebelfetzen hingen bewegungslos über dem dunkelgrünen Wasser. Aus einem ganz von Moos bedeckten Brunnen in der Mitte, einem kleinen Jungen aus Stein mit einer umgedrehten Amphore, rann leise plätschernd ein kaum sichtbarer, dünner Wasserstrahl.
    Es war jetzt fast hell. Der Himmel war so sanft getönt, dass er fast farblos wirkte. Der Garten erwachte. Mehrere Vögel hatten in das Zwitschern des ersten einsamen Sängers eingestimmt. Annetta setzte sich an den Rand des Teichs. Was sollte das? Warum lief sie schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit durch den Garten? Es war, als hätte ein seltsamer Wahn von ihr Besitz ergriffen. Sie blickte ins Wasser und versuchte, die dunklen Umrisse der Karpfen zu erkennen, die reglos zwischen den Wasserpflanzen schliefen, doch statt der Fische erblickte sie plötzlich das Spiegelbild eines Mannes, der hinter ihr stand.
    Annetta sprang so heftig auf, dass sie fast ins Wasser gestürzt wäre.
    »Du!«
    Sie streckte instinktiv die Arme aus, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, aber bevor sie sich versah, hatte er sie am Handgelenk gepackt und an sich gezogen. Einen Arm schlang er um ihren Körper, sodass sie die Arme nicht bewegen konnte, mit der anderen hielt er ihr den Mund zu.
    »Du?« , blies er ihr leise ins Ohr und fuhr spöttisch fort: »Aber suora, kennen wir uns denn?«
    Naturlich nicht, wollte sie sagen, aber ich weiß trotzdem, wer du bist. Du bist der monarchino, der Mann mit dem Fernglas. Doch sie brachte keinen Ton hervor. Je heftiger sie sich gegen seine Umklammerung wehrte, desto stärker wurde sein Griff. Sie versuchte, ihn in die Finger zu beißen, die über ihren Lippen lagen, aber sie konnte den Mund nicht weit genug öffnen. Eine Weile lang rangen sie stumm miteinander. Dann ließ es sie ebenso abrupt los, wie er sie gepackt hatte. Annetta fiel vornüber in das nasse Gras und schmeckte Blut.
    »Warum habt Ihr das gemacht? Meine Lippe blutet!« Sie warf einen wütenden Blick zu ihm hoch und sah dann rasch wieder fort. Ja, kein Zweifel, er war es. Die wirren Locken, das unverschämte Gebaren.

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