Das Mädchen von San Marco (German Edition)
weich, aber das Fleisch darunter schon hart und kalt. Angst hatte Annetta nicht empfunden, nur eine Art Neugier. Das also war der Tod. Mehr nicht?
Mit einer Hand umklammerte die Valide einen kleinen Gegenstand. Was war das? Wie seltsam! Annetta beugte sich vor. Es war eine Art Schmuckstück – nein, nicht irgendein Edelstein, sondern ein Diamant! Und auch nicht ein beliebiger Diamant. Er war so groß, dass er nicht einmal ganz in die Faust der Valide passte. Annetta, die gerade noch kurz davor gewesen war, nach Hilfe zu rufen, presste die Lippen fest aufeinander.
Die Valide besaß viele Edelsteine, exquisit geschliffene, wunderschöne Schmuckgarnituren – Smaragde aus der Neuen Welt, Perlen und Rubine aus Persien und Indien, große Brocken aus grünem Türkis aus den Bergen des Nordens. Die Ausbeute einer langen Zeit als Favoritin des alten Sultans. Einen Stein wie diesen hatte Annetta jedoch noch nie gesehen. Zunächst einmal war es ein einzelner Stein, soweit sie sehen konnte, geschliffen, aber nicht eingefasst, und in jedem Fall zu klobig, um als Schmuck getragen zu werden, selbst von der Valide.
Die reine Neugier trieb Annetta dazu, dass sie versuchte, der Toten den Stein zu entwinden. Nur ein kurzer Blick, und dann lege ich ihn zurück, sagte sie sich. Aber die Finger der Valide waren so fest um den Diamanten gekrallt, dass er sich nicht lösen ließ. Annetta bekam vor Aufregung feuchte Hände. Im flackernden Licht der beiden Kerzenstummel, die sie eigentlich hätte ersetzen sollen und die allein die kleine Schlafkammer erhellten, strahlte der Diamant wie etwas Lebendiges. Annetta legte den Kopf schief und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche, aber es war so still im Palast, dass sie nur ihren eigenen Atem und das Rauschen des Bluts in ihren Ohren hören konnte.
Es war niemand in der Nähe.
Annetta versuchte es noch einmal. Als es wieder nicht gelang, nahm sie die Faust der Valide zwischen beide Hände und drückte, um den Stein aus den Fingern zu quetschen, wie einen Kern aus einer Orange, aber auch damit hatte sie keinen Erfolg. Die Hand der Valide umschloss den Diamanten, als ginge es um Leben und Tod, und wer weiß, dachte Annetta, vielleicht war es wirklich um ihr Leben gegangen. In den dunklen Winkeln des Harems geschahen die merkwürdigsten Dinge, wie sie selbst nur zu gut wusste.
Panik stieg in ihr auf. Die tote Valide, eben noch so friedlich auf dem Diwan, sah plötzlich bedrohlich und finster aus. Ihre Haare waren zerzaust und hingen ihr ins Gesicht, und der Kopf war durch die heftigen Bewegungen zur Seite gekippt. Das Gesicht war jetzt Annetta zugewandt, und das Kerzenlicht hob das fahle Weiß der Augäpfel hervor. An Lippen und Kinn spannte die Haut, sodass die Zähne teilweise entblößt waren und das Gesicht zu einer Grimasse verzerrten.
Annetta bekam kaum noch Luft. Der Schweiß brach ihr am ganzen Körper aus. Was hatte sie sich nur gedacht? Jeden Moment würde jemand kommen, und wenn man sie so fand … Es gab nur eines. Sie kniete sich neben den Diwan, packte mit beiden Händen die Faust der Valide und zog mit den Zähnen einen Finger nach dem anderen von dem Stein ab. Die Haut schmeckte süßlich – nach einer Frucht, die die Valide gegessen hatte oder nach Honig von einem Gebäckstück vielleicht –, und dann, endlich, öffnete sich die Faust mit einem widerwärtigen Knacken.
In diesem Moment zerriss ein durchdringendes, dämonisches Jaulen die Stille der Schlafkammer, und gleichzeitig regte sich etwas unter den Felldecken und begann, wild um sich zu schlagen. Annetta wollte schreien, aber ihr Entsetzen war so groß, dass sie keinen Ton herausbrachte und nur ein heiseres Fiepen ausstieß. Und dann schoss ein weißes Fellbündel unter den Decken hervor, das Annetta nur zu gut kannte.
»Kater! Du hinterlistiges, räudiges, nichtsnutziges, verflohtes kleines …« Annetta wollte den Lieblingskater der Valide packen, aber dieser sauste an ihr vorbei und verschwand in die Nacht.
Das Geheul des Katers hatte den Harem alarmiert. Annetta hörte das Getrappel von Frauenfüßen, die sich dem Vorzimmer der Valide näherten. Sie würden vor der Tür zögern, aber nicht lange. Eilig nahm Annetta den Diamanten an sich und verschränkte die Arme der Valide wieder über der Brust. Die Hand mit dem gebrochenen Finger hatte sie unter die andere geschoben, den gestohlenen Edelstein versenkte sie in ihrer Tasche.
Kapitel 9
Annetta wurde in den frühen Morgenstunden auf einmal jäh
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