Das Mädchen von San Marco (German Edition)
»Was bedeutet das?«
»Nun ja.« Annetta bohrte sich die Fingernägel in die Handfläche, um nicht laut loszulachen. »Es war anders als das Essen, das wir hier bekommen –«
»Ja, ja, ich weiß, was Ihr meint«, unterbrach die stellvertretende Äbtissin sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Das verstehe ich alles.«
Nein, das verstehst du nicht. Du verstehst überhaupt nichts, dachte Annetta. Aber du würdest gern über alle Einzelheiten genau Bescheid wissen, nicht wahr, du heuchlerische alte Schlange?
»Noch etwas?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch recht verstehe, Suor Purificacion«, säuselte Annetta unschuldsvoll. »Was genau verlangt Ihr denn zu wissen?«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie auch schon, dass sie zu weit gegangen war. Sie hatte die alte Nonne in ihrer Gewalt gehabt, aber nun war das Machtgefälle wiederhergestellt, und was in greifbarer Nähe zu liegen schien, war weit fortgerückt. Suor Purificacion schloss die Augen, als schmerze sie der Anblick der jungen Frau, und trat einen Schritt zurück. »Ihr wartet bitte noch, suora .«
»Aber ich stehe hier schon seit einer Stunde. Ich –«
»Ihr wartet hier, Suor Annetta«, herrschte die alte Nonne sie an, »solange ich es wünsche.« Ohne eine weitere Erklärung verließ sie den Raum. Das Pochen ihres Gehstocks auf den Fliesen wurde immer leiser.
Wenn Suor Purificacion den anderen jungen Nonnen ein Geständnis abpressen wollte, genügte es oft, sie stehen und warten zu lassen, solange es ihr beliebte. Madonna! Annetta hätte am liebsten wütend mit dem Fuß aufgestampft. Manchmal brachte sie die verängstigten Frauen sogar dazu, Verfehlungen einzugestehen, die sie gar nicht begangen hatten. Das war ein Skandal, und der alte Sauertopf sollte sich nur nicht einbilden, dass sie ihr auch mit solchen Mitteln beikäme. Vier Jahre als Kammerdienerin der Valide, der mächtigen Mutter des osmanischen Sultans, hatten sie gelehrt zu warten. Annetta versuchte, nicht mehr allzu oft an ihre Zeit im Harem zu denken, aber jetzt tauchten ungebeten die Erinnerungen an eine ganz bestimmte Nacht wieder auf, in der ihr Leben eine entscheidende Wendung genommen hatte.
Sie war in jener Nacht, wie so oft, in die Schlafkammer der Valide gegangen, um ihre Herrin nach ihren Wünschen zu fragen. Die Valide lag auf dem Diwan. Ihre Augen waren geöffnet, die Hände auf der Brust gefaltet, als habe sie sich auf diesen letzten Moment ihres Lebens bewusst vorbereitet oder ihn sogar – der Gedanke ging Annetta sofort durch den Sinn – selbst herbeigeführt. Denn wer sie kannte, wusste, dass sich nichts innerhalb der Haremsmauern ihrer Kontrolle entzog. Safiye Sultan, die Mutter von Gottes Schatten auf Erden, wie der Sultan genannt wurde, die mächtigste Frau im osmanischen Reich und die Frau, deren persönliche Kammerdienerin Annetta war.
Es heißt, die Toten sähen aus, als ob sie schliefen, aber das hatte Annetta nicht so empfunden. Sie hatte die liegende Frau eingehend betrachtet, als sähe sie sie zum ersten Mal. Auf dem linken Ohrläppchen saß ein Leberfleck, eine Wange war von blassen Sommersprossen gesprenkelt, auf einer Hand zeichnete sich ein braunes Muttermal ab – kleine Unvollkommenheiten, die Annetta bis dahin nie aufgefallen waren.
Als sie die Valide fand, konnte diese noch nicht lange tot gewesen sein, aber die Haut hatte schon eine gelbliche Färbung angenommen und der Mund stand offen. Fast glaubte Annetta, ihre Stimme zu hören – Worauf wartest du , cariye? Bring mir meinen Schal – meinen Kaffee – meinen Kater – beeil dich! –, aber nein, diese wunderbare Stimme würde nun für immer schweigen. Ihre Präsenz war immer noch so stark, dass die Eunuchen, die Annetta später rief, eine Weile lang nicht wagten, sie zu berühren. Doch zunächst hatte Annetta allein vor dem Diwan gestanden und die tote Herrin betrachtet.
Ein Schauer überlief Annetta, als sie sich an die Szene erinnerte. Die Valide, tot! Der einst so schöne, kraftvolle Körper lag ausgestreckt unter den schweren Pelzdecken und wirkte viel zerbrechlicher als im Leben. Annetta konnte es kaum fassen: Die Person, die sie zu kennen geglaubt hatte, war nur eine Illusion gewesen. Ein Zaubertrick. Ein Akt des Willens. Oder alles zusammen.
Ihre Haare, die offen auf das Polster fielen, erinnerten in dem seltsam grünblauen Licht der Schlafkammer an die fließenden Locken einer Meerjungfrau. Vorsichtig hatte Annetta die Hand berührt. Die Haut war
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