Das Mädchen von San Marco (German Edition)
seine Empfindungen während der Überfahrt, vergaß Ekel und Langeweile, und sein Interesse war wieder geweckt.
Carew betrachtete Suor Veronica und versuchte sich vorzustellen, wie sie als Frau war. Ambrose mochte sie für eine geniale Malerin halten, aber er entdeckte nichts, was seine Phantasie beflügelte: Unter den Gewändern und dem Schleier, der ihre Haare verhüllte, war Suor Veronica weder alt noch besonders jung. Schlank war sie, aber wahrscheinlich fühlte sie sich ohne ihr Unterhemd wie ein Sack alter Knochen an. Ein sympathisches, intelligentes Gesicht, aber lang … eben ein Pferdegesicht.
Seine Tagträumerei wurde durch einen jähen, scharfen Schmerz in den Rippen unterbrochen. Als er aufschaute, stand Ambrose vor ihm und zielte mit der Stiefelspitze auf Carews Brustkorb.
»Sitzt nicht herum und glotzt, Mann. Meine Geschäfte dauern nicht lange. Geht, macht Euch anderswo nützlich.«
Carew stand langsam auf. »Wie Ihr meint, mein Herr.« Er verneigte sich mit übertriebenem Respekt. »Ich werde beim Boot warten, so es Euch beliebt, mein Herr?«
»Er kann in den Garten gehen, wenn er mag!«, rief Suor Veronica von hinten.
Während er noch unschlüssig an der Tür stand, begann irgendwo in dem schläfrigen Kloster eine kleine, helle Glocke zu läuten.
»Nun, wie Ihr meint.« Ambrose runzelte die Stirn. »Ich möchte nicht, dass mein Diener …« – er warf Carew einen bedeutungsvollen Blick zu – »… sich irgendeine Unschicklichkeit zuschulden kommen lässt.«
»Gewiss, gewiss. Er wird niemanden stören. Das war die Glocke für das pranzo, meine Schwestern werden alle im Refektorium sein. Suora! Wo seid Ihr, suora! «, rief sie einer anderen, bislang unbemerkt gebliebenen Person zu. »Seltsam, vor einer Minute war sie noch da«, murmelte Veronica kopfschüttelnd. Ein Geräusch ließ sie aufblicken. »Ah, da ist sie ja – was versteckt Ihr Euch da oben, suora? Ihr solltet doch schon mit den anderen auf dem Weg zum Refektorium sein.« Als sich nichts rührte, wurde Veronica energisch. »Kommt herunter, kein Grund, schüchtern zu sein.« Sie wandte sich Carew zu und wies auf eine zweite Nonne, die gerade langsam die Wendeltreppe von der Galerie herabstieg.
»Pflückt nur bitte nichts ab, junger Mann, das ist alles, worum ich Euch bitte.« Suor Veronica lächelte Carew strahlend an. »Suor Annetta wird Euch den Weg zeigen.«
Carew folgte der zweiten Nonne ins Freie. Nach ihrem vorsichtigen Abstieg von der Galerie hastete sie jetzt zur Tür, und zwar so schnell, dass er kaum Zeit hatte, einen flüchtigen Blick auf sie zu erhaschen.
»Wartet Schwester, nicht so schnell.«
Aber die Nonne lief mit sittsam geneigtem Kopf und verschränkten Armen entschlossen weiter, als wollte sie ihm unbedingt immer einige Schritte voraus sein.
»Ich werde Euch schon nicht beißen …« Carew rannte fast, um sie einzuholen. Diese Nonne schien noch aufgeregter zu sein, als die malende Nonne es bei ihrer Ankunft gewesen war.
»Wie ist Euer Name? Was habt Ihr gesagt? Benadetta, oder?«, keuchte Carew. Sie warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, antwortete jedoch immer noch nicht.
»Na gut«, seufzte Carew resigniert. »Nicht sehr gottgefällig von Euch, einen Gast des Klosters einfach zu ignorieren.«
Ein paar Minuten lang amüsierte sich Carew damit, ihre Rückenansicht zu begutachten: jung, oder zumindest viel jünger als die andere, vermutete er, eine schmale Taille, aber dennoch ein hübscher Hintern, der durch ihren seltsam wiegenden Gang vorteilhaft betont wurde. Die Kasteiung des Fleisches war bei ihr noch nicht sehr weit fortgeschritten, so viel war sicher.
Dieser Gedanke belebte ihn. Das unbestimmte Gefühl von Unzufriedenheit, das er in der Gondel verspürt hatte, und der Entschluss, die gefährlichen Eskapaden ein für alle Mal zu beenden, lösten sich auf wie der Morgennebel über der Lagune, und Carew merkte, dass der Duft eines neuen Abenteuers in der Luft lag.
Sie hatten das Herbarium hinter sich gelassen und befanden sich jetzt im Kräutergarten, wo sich mehrere Reihen sorgfältig beschnittener Buchsbaumhecken in symmetrischen Formen ausbreiteten. Die junge Nonne blieb unvermutet stehen und wandte sich halb zu ihm um, die Hand vor das Gesicht gelegt, um es vor der glühenden Mittagssonne zu schützen.
»Das ist der Garten«, sagte sie, und ihre Stimme war, wie ihm auffiel, unerwartet warm und leise. »Die Glocke läutet wieder am Ende des pranzo . Wenn Ihr sie hört, wäre es
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