Das Mädchen von San Marco (German Edition)
bekommen – zum Glück, denn das hätte sie vermutlich umgebracht. Als man ihre Beine untersuchte, stellte man fest, dass die Brüche alt und die Knochen schon wieder zusammengewachsen waren. Dennoch hielt es keine der Frauen für wahrscheinlich, dass sie je wieder würde laufen können.
Die fremde Frau sprach nie, noch nicht einmal mit dem Säugling, mit dem sie anscheinend wenig anzufangen wusste. Das Einzige, was sie tat, war, ihn in Windeln zu wickeln und bei sich zu tragen. Es wurde bald deutlich, dass sie keine Milch hatte oder zumindest nur so wenig, dass das Kind davon nicht gedeihen konnte, und wäre es Maryam nicht gelungen, eines der Pferde, die Signor Bocelli ihnen geschenkt hatte, gegen eine Milchziege einzutauschen, hätte der Säugling nicht überlebt. Elena probierte alle Sprachen aus, die sie kannte – Venezianisch, Spanisch, Griechisch, sogar die Sprache der Osmanen –, aber mit keiner davon hatte sie Glück. Die Meerjungfrau blickte sie mit ihren hellen Augen verständnislos an.
»Ist sie taub? Taubstumm vielleicht?«, überlegte Maryam laut. »Oder vielleicht ist sie nur schwachsinnig?«
»Nein«, erwiderte Elena stirnrunzelnd, »das glaube ich nicht. Ich glaube, sie ist nichts dergleichen, sondern eher wie ein … ich weiß nicht.« Sie hätte beinahe ›Geist‹ gesagt, aber das auszusprechen brachte bestimmt Unglück, und so fuhr sie stattdessen fort: »Es ist, als ob sie einfach … nicht da ist.«
Es war eine mondlose Nacht und zu dunkel, um weiterzuziehen, deshalb hatten die Frauen ihre Zelte – kleine, runde, leuchtend bunte Pavillons, wie sie Nomaden benutzen – im Halbkreis im Schutz der wenigen Bäume aufgeschlagen.
Nachdem die kleinen Mädchen schlafen gegangen waren, lagen Maryam und Elena nun nebeneinander im Freien unter den Sternen, und während sich ihre Hände leicht berührten und sie die kleinen Finger ineinander verhakt hatten, lauschten sie den vertrauten Geräuschen, die aus den Zelten drangen.
»Bist du dir sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher. Und es stimmt nicht, dass sie nicht sprechen kann. Ich habe sie sprechen hören, erst vor kurzem, aber nur ein Wort.«
»Was hat sie gesagt?«
»Nur ein Wort: No! «
»Nur das?« Maryam starrte in die Dunkelheit. »Einfach nur ›no‹. Das bringt uns nicht sehr viel weiter, oder? Es könnte alles Mögliche sein: Italienisch, Spanisch, Französisch …« Sie zuckte die Achseln. »Warum hat sie überhaupt ›no‹ gesagt?«
»Du erinnerst dich an das kleine Samtbeutelchen? Das wir versteckt in ihrer Kleidung gefunden hatten? Das sie ständig auf und zu macht?«
»Ja.«
»Meine Nana hatte es irgendwie in die Finger bekommen und damit gespielt, und als die Frau es merkte, schien sie sich ziemlich aufzuregen. Sie stützte sich auf einen Ellbogen auf und rief einmal laut ›No!‹. Nana hat es auch gehört. Wenn sie nicht dabei gewesen wäre, hätte ich vielleicht geglaubt, dass ich es mir nur eingebildet habe.«
Eine Zeitlang lagen die Frauen schweigend unter dem Himmelszelt. Von einem fernen Hügel drangen das Gebell eines Schäferhundes und das leise Gebimmel von Schafglocken.
»Wo sie wohl herkommt?«
Wie oft sie in den vergangenen Wochen dieses Gespräch schon geführt hatten!
»Auch wie sie in diesem Pestdorf gelandet ist, würde ich wirklich gern wissen«, sinnierte Maryam.
»Sie ist kein Mädchen vom Lande, das ist jedenfalls sicher. Hast du ihre Hände gesehen? Und diese Haut – so blass! Sie hat in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet, jedenfalls nicht auf dem Feld.«
»Dann ist sie wohl eine feine Dame?«
»Eine Dame? Panagia mou! Jetzt nicht mehr, Gott schütze sie.« Elena klang traurig. »Sie wird wahrscheinlich nie wieder eine werden.«
»Dieser Bocelli hat mir erzählt, dass die Fischer sie mit ihren Netzen aus dem Wasser gezogen haben.«
»Und du glaubst, dass er dir die Wahrheit gesagt hat?«, fragte Elena und wandte sich in der Dunkelheit Maryam zu.
»Ich glaube, Männer wie Bocelli würden die Wahrheit noch nicht einmal erkennen, wenn sie ihnen einen Tritt in die testicolos versetzen würde.« Maryam lachte verächtlich. »Ich vermute, dass jemand sie kurz vor der Geburt in der Nähe des Dorfes ausgesetzt hat. Und Bocelli hat sie gefunden, nehme ich an.« Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher klang die ganze Geschichte.
»Was sind das für Unmenschen, wie kann jemand so etwas tun? Stell dir vor, was sie durchgemacht haben muss, ganz allein, ohne
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