Das Mädchen von San Marco (German Edition)
also besser, wenn Ihr Euch entfernt – gleichgültig, was Suor Veronica gesagt haben mag.«
Das klang fast so, als unterliege Ambroses malende Nonne den Klosterregeln nicht. Carew wartete darauf, dass sich seine Begleiterin weiter darüber ausließ. Den meisten Nonnen, denen er bislang begegnet war, war jede Ausrede recht, um mit einem Unbekannten zu plaudern, aber diese schwieg. Deshalb stellte er sich ihr direkt in den Weg, als sie umkehren und an ihm vorbeihuschen wollte.
»Bleibt hier! Bitte, nicht so schnell.« Carew entschied sich für eine neue Taktik und versuchte seiner Stimme ein möglichst einschmeichelndes Timbre zu geben. »Wollt Ihr mir nicht sagen …« – er schaute sich suchend nach einem Vorwand um und sein Blick fiel auf eines der Blumenbeete – »… was das für Pflanzen sind?«
»Glaubt nicht, dass Eure kleinen Spielchen bei mir wirken!« Dieses Mal war die Stimme der Nonne weder leise noch warm.
Carew horchte auf. »Wartet, Schwester, wir haben schon einmal miteinander gesprochen, nicht wahr?«
Als sie nicht antwortete, streckte er den Arm aus, als wolle er ihr die schützende Hand von dem Gesicht ziehen, aber sie wirbelte herum und wandte ihm den Rücken zu.
»Ihr wurdet gebeten, nichts anzufassen, wisst Ihr das nicht mehr?«, stieß sie atemlos hervor, als koste es sie Mühe, überhaupt zu sprechen.
»Oh!«
Da erst begriff Carew, was er von Anfang an hätte bemerken sollen – dass die junge Frau Angst vor ihm hatte. Das Bild eines Hasen stieg in ihm auf, den er als Junge einmal gefangen hatte. Das Tier hatte vor ihm gesessen, ohne sich zu rühren, als wäre es zahm, und erst nach einer Weile hatte er bemerkt, wie sein kleiner Brustkorb sich rasend schnell hob und senkte, als würde ihm jeden Moment das Herz zerspringen.
Carew orientierte sich kurz: Auf der einen Seite lagen der Garten und die der Lagune zugewandte Mauer, auf der anderen ein Flügel des Klosters. Er warf einen geübten Blick nach oben zu den Fenstern und suchte nach Anzeichen, dass sie beobachtet wurden, aber so weit er es erkennen konnte, war niemand da.
Die junge Frau musste seinem Blick gefolgt sein, denn sie sagte rasch: »Unsere Ehrwürdige Mutter wohnt da oben, also versucht besser nicht, mich anzufassen – ha capito? «
Jetzt war sich Carew sicher. »Ich kenne Euch doch!« War das wirklich ein Zufall? Wohl kaum. »Ihr seid diejenige, die im Nachthemd im Garten herumgestrolcht ist.«
Diejenige, die ich beinahe erwürgt hätte, diejenige, der ich gedroht habe, sie gleich auf der Stelle zu nehmen, weil ich ihr Angst einjagen wollte. Herrgott, kein Wunder …
Sie stand da und starrte zu Boden, aber er konnte ihr Gesicht immer noch nicht erkennen. Und dann warf sie erneut einen Blick zu den Fenstern des Klosters. Hatte sie vielleicht die Wahrheit gesagt? Konnte die Äbtissin sie sehen?
Ihr Profil war ihm zugewandt, und er bemerkte, dass eine Strähne ihres langen, dunklen Haares der eng anliegenden Kopfbedeckung entschlüpft war. Er sah auch ihre edle, gerade Nase, die leicht geblähten Nasenlöcher und ein kleines Muttermal, das wie ein Schönheitsfleck auf ihrem rechten Wangenknochen saß. Plötzlich war es ihm ein dringendes Bedürfnis, dass sie nicht fortging, dass sie noch ein Weilchen blieb. Carew überkam das Gefühl, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte, obwohl er gar nicht wusste, was genau das sein mochte.
Die Sonne brannte vom Himmel. Carew spürte die Hitze auf dem Rücken, am Nacken und auf dem unbedeckten Kopf, als führe jemand mit einer Messerklinge über die Haut. Der Garten flirrte in der Mittagshitze, die Farben der Blumen schienen in einem feenhaften Dunst ineinanderzufließen. Über dem Garten lag eine Stille, wie es sie nur an solch abgeschiedenen, heißen Orten zur Mittagszeit gab. Es war, als hielte alles Lebendige den Atem an. Carew versuchte, sich daran zu erinnern, wie die junge Nonne an jenem Morgen vor einigen Tagen ausgesehen hatte, aber er musste feststellen, dass er keine besondere Erinnerung daran besaß. Nur noch daran, wie klein und verletzlich sie sich angefühlt hatte.
Dann wandte sie ihm endlich das Gesicht zu, und sie sahen sich in die Augen.
»Benadetta …«, hörte er sich sagen.
Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach sie heftig, »es heißt Annetta . Mein Name ist Annetta.«
Und Carew wusste nicht, was er sagen sollte.
Im nächsten Augenblick schritt sie an ihm vorbei, und er blieb wie ein Riesentölpel stehen und tat nichts, um
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