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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katie Hickman
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sie aufzuhalten. Bildete er es sich nur ein, oder hatte ihr Handrücken ihn gestreift, ganz leicht, wie ein Hauch?
    Carew folgte ihr mit den Blicken. Wieder dieser seltsam wiegende Gang. Wo hatte er ihn nur schon einmal gesehen?
    Doch im nächsten Augenblick war all das vergessen, denn er sah, dass Annetta auf dem Weg etwas fallen gelassen hatte. Er bückte sich, um es aufzuheben, und hielt ein rosarotes, mit Silberfäden besticktes Samtbeutelchen in den Händen. Eine genaue Kopie des Beutels, in dem der Blaue Stein des Sultans in Zuanne Memmos ridotto aufbewahrt wurde.

Kapitel 19
    Den ganzen Sommer über wanderten die Frauen durch die sengende Hitze nach Norden, wobei sie unterwegs in den Dörfern und Weilern anhielten, um auf Jahrmärkten und an Festtagen ihre Kunststücke aufzuführen. Sie reisten meist in der Nacht, wie es während der Sommermonate ihre Gewohnheit war, um der schlimmsten Hitze zu entgehen. Manchmal, wenn ihr Weg sie in Küstennähe führte, fanden sie einen Bootsführer, der bereit war, sie – mit Pferden, Karren und allem anderen – eine kurze Strecke mitzunehmen. Maryam murrte wegen der Kosten, aber nach der Gluthitze an Land – einem Land, in dem man auf den Steinen am Boden Eier braten konnte – fühlten sich die Nähe des Wassers und die kühlende Meeresbrise geradezu paradiesisch an.
    Wenn die Frauen über die Dorfplätze zogen, boten sie den Bewohnern einen unvergesslichen Anblick. Sie kündigten ihre Ankunft mit einer eigentümlichen Katzenmusik aus Zimbeln, Trommeln, Tamburinen und Flöten an. Eine von ihnen, Ilkai, die eine noch lautere Stimme als Maryam besaß und deren dröhnenden Bariton mühelos übertönte, ging voraus und pries wie ein Marktschreier ihre Attraktionen an: »Die Frauen aus Thessaloniki, die berühmteste Gauklertruppe der Welt, hochgeschätzt von Paschas, Wesiren, ja, sogar vom Sultan, dem Großtürken, höchstpersönlich: Für einen Abend nur …«
    Mit großen Sprüngen folgten die anderen Gauklerinnen, sechs insgesamt, in ihren leuchtend bunten Jacken und seltsam wallenden Gewändern, die sich von den Knien abwärts wie Männerhosen an die Beine schmiegten. Nach ihnen kam Maryam –  die Riesin aus Saloniki  – mit einem roten Tuch um die Stirn und einem Ledergürtel um die unförmige Jacke. Manchmal trug Maryam Elenas zwei kleine Mädchen, Nana und Leya, auf den Schultern, eins rechts, eins links. Manchmal liefen sie auch vor ihr her, balancierten auf den Händen, beugten ihre kleinen Körper rückwärts und krümmten sich zu seltsamen krabbenartigen Figuren, während Maryam selbst einen Wagen zog, auf dem eine bizarre Mischung von Gegenständen gestapelt war: Töpfe und Pfannen, Holzklötze, ein Satz Kanonenkugeln – lauter Requisiten, die sie für ihre Vorführung als »starke Frau« brauchte. Den Schluss bildete Elena, deren sanfte Gesichtszüge mit Kreide in eine traurige weiße Maske verwandelt worden waren. Ihr Kostüm bestand aus einem bunt gestreiften Narrenkleid, mit Pailletten bestickt, sodass sie bei jeder Bewegung glitzerte wie ein mit Raureif bedecktes Fabelwesen.
    Meistens begrüßten die Dörfler ihre Ankunft freudig. Der Zauber und der Reiz ihrer fremdartigen Erscheinung wogen schwerer als ihr zweifelhafter Ruf als Fahrende. Nur manchmal, wenn sich die Priester gegen die Truppe wandten, bekamen die Leute Angst. Sie läuteten die Glocken in den Kirchtürmen, bewarfen sie mit Steinen und hetzten ihre Hunde auf sie, sodass die Frauen oft gezwungen waren, durch die sengende Hitze zum nächsten Dorf zu fliehen.
    Allen Widrigkeiten zum Trotz schienen die Meerjungfrau und ihr Kind anfangs aufzublühen. Da Maryam nicht wusste, wie sie hieß, nannte sie die junge Frau Thalassa nach dem Meer, aus dem sie stammte, aber irgendwie passte der Name nicht zu ihr. Sie schien ihn nie auszufüllen, genauso wenig, wie sie die Kleider, die man für sie gefunden hatte, richtig ausfüllte oder den Platz, an dem sie schlief. Die anderen Frauen, die von Anfang an diese geheimnisvolle Meereskreatur, diese verwundete Nixe, die unter so unheilvollen Umständen bei ihnen gelandet war, argwöhnisch beäugten, nannten sie unter sich meist nur ›Sie‹.
    Zunächst noch durch die Geburt geschwächt, lag die Meerjungfrau mit ihrem Kind auf einem behelfsmäßigen Lager hinten im Karren und machte keinerlei Anstalten, sich von dort fortzubewegen. Die Verletzungen an ihren Handgelenken und Fußknöcheln heilten zwar nur langsam, aber sie hatte kein Fieber

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