Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Maryam, du weißt doch selbst, dass ein Kind wie dieses … Es könnte der natürliche Lauf der Dinge sein.«
»Was meinst du damit, der Lauf der Dinge?«
»Hör zu, Maryam«, sagte Elena seufzend, »das Kind wird wahrscheinlich nicht lange leben. Es wird mit jedem Tag schwächer. Finde dich damit ab.«
»Ich dachte … ich dachte, es wäre jetzt vielleicht doch möglich …«
»Aber ob sie sich daran erinnert oder nicht, macht für das Kind keinen Unterschied«, sagte Elena. »Trotzdem müssen wir alles tun, um ihr zu helfen.« Sie gab der strampelnden Nana einen Kuss und ließ sie von ihrem Schoß hinunterrutschen. Das Schicksal der jungen Frau ging ihr mehr ans Herz, als sie zugeben wollte. Sie kam ihr vor wie jemand, der hilflos auf dem abgrundtiefen Ozean treibt und nichts hat, das ihn im Leben verankert.
»Das stimmt«, gab Maryam zu.« Und vielleicht wäre es besser für sie, wenn sie sich gar nicht erinnert. Ist dir das auch schon mal in den Sinn gekommen?«
Sie dachte an ihre eigene Geschichte, an die Dinge, die sie gesehen hatte, die Menschen, durch deren Händen sie gelitten hatte. Wie viel würde sie darum geben, sich nicht an alle Einzelheiten erinnern zu müssen! Sie spürte mit jeder Faser ihres Wesens, dass dieser Frau schreckliche Gewalt angetan worden war. Ihre Beine, das Kind … Immer wenn sie daran dachte, überkam Maryam eine Empfindung, als würde eine Hand ihr die Luftröhre zudrücken. Falls ich Bocelli jemals wiedersehe, werde ich es aus ihm herausquetschen, aus dieser dreckigen, betrügerischen kleinen Zecke. Das schwöre ich auf die Körper von Nana und Leya. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Das schwöre ich bei meinem Leben.
Celia wachte mit einem Schrei auf, ihr Herz raste.
In ihrem Traum war jemand auf sie zugekommen, ein Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte. Sie versuchte, vor ihm davonzulaufen, aber sie schaffte es nicht, sie versuchte zu schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie hatte ein starkes Gefühl von Beklemmung, als würde ein schweres Gewicht sie niederdrücken. Sie vermochte kaum noch zu atmen, geschweige denn, sich zu bewegen. Dann folgte ein stechender Schmerz zwischen den Beinen, der nicht aufhören wollte. Eine Klaue aus Metall oder Knochen, vielleicht aber auch menschliche Fingernägel, zerrten brutal an ihr, um sie auseinanderzureißen, sie zu öffnen. Ihre Wange schrammte über raue Holzplanken, unter ihrem Rücken lag etwas Gewundenes, Hartes, vielleich Seilrollen, und in der Luft lag ein Gestank, der ihr bekannt vorkam, faulig und verdorben, Fisch vielleicht? – beeilt euch, Jungs, macht weiter –, und dann ist da noch etwas anderes, etwas Unsichtbares, hartes Fleisch oder harter Knochen, es sticht unbeholfen auf ihre Oberschenkel ein, je eher wir die Sache hinter uns bringen, desto schneller sind wir wieder zu Hause, es sucht nach ihrem geheimen Ort, der jetzt eingerissen und blutbefleckt ist, aber es verfehlt jedes Mal das Ziel, bis es ihn dann doch findet. Sein ekelhaftes Schnaufen, der Fischatem an ihrem Ohr, auf ihren Wangen und sogar an ihren Lippen, und ihr wird mit Schrecken klar, dass er sie mit der Zunge ableckt, ihr Gesicht abschleckt, den Teil, der nicht auf den Boden des Bootes gepresst ist, so also ist es, oh Gott , er stößt in sie hinein, erbarmungslos, oh Gott, die Schmerzen, die Schmerzen, hilf mir Gott hilf mir, wieder sein Atem in ihrem Ohr, wie ein Schluchzen dieses Mal, tief, tief in ihr, wenn es so weitergeht, denkt sie, wird sie einfach entzweigerissen.
Celia setzte sich auf, ihr Unterhemd war schweißgetränkt.
Sie brauchte eine Weile, bis sie wusste, wo sie war. Es herrschte Nacht, und sie lag mit den anderen Frauen in einer Reihe auf dem Deck der Ketsch. Sie hatten bei Anbruch der Nacht in einer kleinen Bucht Anker geworfen. Schirmkiefern wuchsen auf einem Steilhang, der bis ans Wasser führte. Selbst an Deck war die Nachtluft heiß und drückend. Die Zikaden, die tagsüber entlang der Küste beharrlich gezirpt hatten, waren verstummt. Nur die leisen Bootsgeräusche waren noch zu hören: das Knarren von Holz, das Schrammen und Ächzen der Ankerkette und daneben das Geraschel der Nachttiere im Wald. Der Vollmond schien so hell, dass sie Maryams rotes Kopftuch erkennen konnte, das an einem Nagel am Besanmast hing.
Während Celia versuchte, den Schatten des Traumes abzuschütteln, vernahm sie ein Geräusch. Irgendwo in der Nähe platschte etwas ins Wasser. Celia kroch zum Rand des Bootes. Zur
Weitere Kostenlose Bücher