Das Mädchen von San Marco (German Edition)
»Ein paar Asper vielleicht?«
»Vielleicht.«
Celia fragte sich, ob sie Maryam von den Delphinen erzählen sollte, die im Mondlicht gespielt hatten, und den anderen Erinnerungen, die dadurch geweckt worden waren, aber im Grunde fürchtete sie sich immer noch ein bisschen vor dieser Riesin in der derben Lederjacke, die so hoch aufragte und so wenig sprach.
Die Sonne ging über dem Horizont auf, und die anderen auf dem Boot begannen sich zu regen. In dem fahlen Licht der Dämmerung sah Celia Maryams Gesicht deutlicher. Ohne das übliche Tuch um den Kopf hingen ihr die schwarzen Haare lose um das Gesicht. Sie hatte einen schwarzen Flaum auf der Oberlippe. Maryam sah in all ihrer Hässlichkeit imponierend aus. Wie es sich wohl anfühlte, eine Laune der Natur zu sein?
Aus dem Bündel, das neben ihr lag, kam ein leises Geräusch.
Als Celia keine Anstalten machte, das Kind hochzunehmen, fragte Maryam: »Darf ich?«
Celia nickte und beobachtete, wie Maryam den Säugling hochhob. Was für ein absurder Anblick – die riesige Frau und das winzige Kind. Maryam hielt das kleine Bündel so unbeholfen in einer Hand, dass Celia schon befürchtete, sie werde es fallen lassen. Doch das breite Gesicht mit der pockennarbigen Haut lächelte so liebevoll auf das Kind hinunter, dass sich Celia plötzlich schämte. Ein zerbrechliches Ärmchen löste sich aus dem Tuch, in das das Kind eingewickelt war, und machte ein paar kraftlose Bewegungen. Maryam reichte dem Säugling den Zeigefinger und hielt vor Entzücken den Atem an, als die winzigen Fingerchen zuckten und sich dann darum schlossen.
»Schau!«, flüsterte sie. »Was für eine kleine Hand er hat …« Im rötlichen Morgenlicht glühte Maryams Gesicht und sah für einen Augenblick fast schön aus. »Wie eine flatternde Motte.«
»Er?« Celia runzelte die Stirn.
»Aber natürlich.« Maryam, die ihre Augen nicht von dem Kind abwenden konnte, nickte. »Es ist doch ein Junge, nicht wahr?«
Während sie sprach, löste sich ein weiterer der Stoffstreifen, in die das Kind eingewickelt war, und entblößte seinen Unterleib. Unwillkürlich wandte Celia den Blick ab.
»Ich … weiß nicht«, murmelte sie, »schwer zu sagen.«
Maryam sah sie ruhig an.
»Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.«
»Ich schäme mich nicht.«
»Und warum wirst du rot?«
Maryam hatte Recht, Celias war das Blut in die Wangen gestiegen. Aber es ist nicht nur Scham, was ich empfinde, dachte sie, es ist Abscheu. Ich bekomme bei seinem bloßen Anblick eine Gänsehaut. Und obwohl ich weiß, dass Gott mich dafür strafen wird, gibt es keinen Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, was wohl passieren würde, wenn ich es der Tiefe zurückgäbe . Aber sie brachte keinen dieser Sätze über die Lippen, ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Meine Eltern haben sich stets für mich geschämt.« Es lag keine Bitterkeit in Maryams Stimme, als sie diesen Satz aussprach. »Ich war schon immer zu groß. Sie hielten mich für eine Missgeburt. Und vermutlich bin ich das auch. Mit elf war ich größer als mein Vater, und er war ein hochgewachsener Mann und auch sehr stark. Sie haben versucht, mich zu verstecken, damit unsere Nachbarn im Dorf mich nicht sahen, sie ließen mich nicht draußen mit den anderen Kindern spielen.« Maryam schüttelte langsam den Kopf, als wollte sie die Erinnerung loswerden. »Aber für diesen Kleinen«, schloss sie und wickelte den Stoff liebevoll wieder um den Fischschwanz, »wird sich niemand schämen.«
»Woher weißt du, dass es ein Junge ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Das Kind drehte suchend den Kopf hin und her und gab leise, klagende Laute von sich.
»Er hat Hunger«, sagte Maryam.
»Er trinkt nicht.« Celia sah das Kind traurig an.
»Lass mich es versuchen.«
Sie ging fort und kam mit einer Tasse Milch zurück.
Zärtlich nahm sie das Kind hoch und legte es sich in die Armbeuge. Dann tauchte sie den Zeigefinger in die Flüssigkeit und flößte ihm mit unendlicher Geduld Tropfen für Tropfen ein.
»Schau!« Maryams Gesicht strahlte. »Er trinkt!«
Celia beobachtete das Kind, das in Maryams gewaltigem Arm lag. Es war so dünn und schwach und seine Haut war immer noch so rot und runzlig wie die eines Neugeborenen. Auf einmal begriff sie, was Elena schon die ganze Zeit gewusst hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie, und wünschte gleich darauf, sie hätte die Worte zurückgehalten, »aber ich glaube, dass es zu spät ist.«
»Zu spät? Es ist nie zu spät – schau doch.«
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