Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Augenblick lang wirkte er niedergeschlagen. Er trat einen Schritt vom Gitter zurück und senkte den Blick. Aber Annettas Triumphgefühl war kurzlebig.
»Nun gut, Schwester«, antwortete er lauter als vorher, damit Caterina ihn hören konnte. »Mein Herr hat mich geschickt. Ich soll Euch ausrichten, dass er glaubt, er habe etwas, das Euch gehört.«
»Was ist das für ein Unsinn? Ich habe noch nie etwas von Eurem Herrn gehört. Er kann also keinesfalls etwas besitzen, das für mich von Interesse wäre.«
»Seid Ihr Euch da ganz sicher?«
»Ganz sicher«, bestätigte sie hochmütig und fuhr dann im Flüsterton fort: »Und bildet Euch nur nicht ein, dass ich Euch nicht durchschaue. Das ist nur wieder einer von Euren dummen Tricks!«
»Darf ich das so verstehen, dass Ihr das hier nicht wollt?«
Carew holte den rosaroten Samtbeutel aus seinem Hemd.
Annetta stürzte zum Gitter.
»Ladro!« Sie versuchte, ihm den Beutel durch die Gitterstäbe zu entreißen. »Dieb! Wo habt Ihr das her? Gebt es mir sofort …«
Aber Carew war zu schnell für sie. Er zog den Beutel im letzten Moment wieder zurück und ließ ihn verführerisch an der Kordel baumeln.
»Suora?« Die Geräusche des Handgemenges rissen Suor Caterina aus ihren Tagträumen. »Befindet Ihr Euch wohl?«
Als sie ihre Stimme hörten, wurden beide sofort still.
»Ja, Signora, alles in Ordnung!«, rief Annetta hastig der Nonne zu, die sich schon fast von ihrer Sitzbank erhoben hatte.
»Warum braucht er überhaupt so lange, dieser dumme Kerl?«, rief Caterina verärgert. Verdrossen spähte sie zum Gitter. Sie schien nicht recht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte.
»Es ist … eine komplizierte Angelegenheit.« Annetta lag auf einmal unglaublich viel daran, Caterina fernzuhalten. »Wegen meiner Mitgift. Ihr hattet Recht, Signora. Bitte – ich komme gleich zum Ende.«
»Also gut.« Caterinas angeborene Trägheit gewann die Oberhand, und sie setzte sich wieder hin.
Carew reichte Annetta den Beutel durch das Gitter.
»Ihr habt ihn verloren«, erklärte er, »auf dem Gartenweg. Ihr seid davongelaufen, bevor ich ihn Euch zurückgeben konnte.«
Annetta nahm das Beutelchen schweigend entgegen. Carew beobachte, wie sie mit den Fingern über die steife Stickerei strich. Dann hielt sie den Beutel ans Ohr, als würde sie auf etwas lauschen.
»Ich habe nichts herausgenommen, er war leer, als ich ihn aufhob.«
»Leer?« Annettas Finger zitterten so sehr, dass sie kaum die Kordel aufknoten konnte. »Ihr habt nur nicht gründlich genug nachgesehen.« Sie schaute ihn verstört an. »Habt Ihr eine Ahnung, wie sehr ich danach gesucht habe? Ich habe das ganze Kloster auf den Kopf gestellt.«
Er sah zu, wie sie an einem Faden zog, einen Teil der Stickerei auftrennte und das Seidenfutter von der bestickten Samthülle löste. Und nachdem sie Zeigefinger und Daumen in die Lücke geschoben hatte, zog sie ein kleines zusammengefaltetes Blatt Papier heraus und hielt es hoch, damit er es sehen konnte.
»Papier?«
»Ein Gedicht.«
»Ein Gedicht?«
Die ganze Aufregung wegen eines Papierfetzens, auf dem ein paar Verse geschrieben standen! Er erkannte blasse Buchstaben in einer winzig kleinen Handschrift, eine Schrift wie von Geisterhand. Aber er durfte jetzt nichts sagen, was sie beunruhigen mochte, denn ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er musste die Fragen stellen, derentwegen er gekommen war, und dann verschwinden. Es war leichtsinnig gewesen, am helllichten Tage und unter einem so fadenscheinigen Vorwand ins Kloster zurückzukehren. Er konnte jeden Augenblick von der anderen Nonne erkannt werden.
»Habt Ihr das geschrieben?«
Sie warf den Kopf in den Nacken. »Nein.«
Das führte nicht weiter. Carew zermarterte sich den Kopf.
»Darf ich es lesen?«
Darauf antwortete sie nicht, sondern führte lediglich das Papier kurz an die Lippen und steckte es dann behutsam wieder in sein Versteck im Futter des Beutels. Carew vermochte den Blick nicht von ihr zu wenden – die Art, wie sie den Hals drehte, das kleine Muttermal, das wie ein Schönheitsfleck seitlich auf ihrer Wange saß. Ihre Augen, beinahe mandelförmig.
»Was auch immer darauf geschrieben steht, es muss für Euch sehr wertvoll sein.«
»Es wurde von jemandem geschrieben, den ich einst kannte, jemandem, der für mich verloren ist. Sie hat mich gebeten, es für sie aufzubewahren.«
»War sie ebenfalls eine Nonne?«
Annetta lachte spöttisch. »Ich hoffe nicht. Ich soll es dem Mann geben, für den sie es
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