Das Mädchen von San Marco (German Edition)
überbringen soll«, hörte Annetta die näselnde Stimme von Suor Caterina. »Nun dann, geht zu ihm …« – sie spürte eine ungeduldige Hand im Kreuz – »… und passt auf, dass er nicht den ganzen Tag dafür braucht.«
Langsam näherte sich Annetta dem Gitter. Nach der Hitze im Garten war die Luft hier so kühl, dass sie fröstelte. Annetta konnte zwar das Gesicht des Besuchers noch nicht erkennen, aber sie spürte deutlich, wie er sie beobachtete. Sein ganzer Körper war angespannt, und sie wusste, dass er sich fragte, ob sie ihn verraten würde. Hätte sie die Absicht gehabt, ihn bloßzustellen, wäre jetzt der rechte Augenblick gekommen. Hier stand der Eindringling, der Verfolger aus dem Garten, der monarchino, der Nonnenverführer – derjenige, der in so würdeloser Hast geflohen war, dass er dabei seinen Schuh hinter einem Blumenbeet verloren hatte. Es war allgemein bekannt, dass der Versuch, eine Nonne zu verführen, sehr hart bestraft wurde: Ein Wort also von ihr, und sein Leben wäre ruiniert.
Doch sie zögerte.
» Suora? Ist alles in Ordnung?«
Caterina, die in Abwesenheit von Suor Chiara für Annetta die Anstandsdame spielte, meldete sich aus dem hinteren Teil des Empfangszimmers zu Wort. Annetta öffnete den Mund, aber statt eine Anklage hinauszuschreien, hörte sie sich ganz ruhig sagen: »Macht Euch bitte keine Umstände, suora – ich meine Signora Caterina –, ich brauche nicht lange.«
Doch immer noch zögerte sie. Im Halbdunkel des Empfangszimmers trat nach und nach sein Gesicht aus dem Schatten hervor. Er sah blass aus, und seine Augen, die einmal so hart dreingeschaut hatten, wirkten keineswegs mehr wie Steine. Sie spürte, wie sein Blick auf ihr ruhte, und sie hielt diesem Blick stand. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn noch nie richtig betrachtet hatte. Sie hatte ihn immer nur indirekt beobachtet, durch das Fernglas, aus dem Schatten der Klostergänge, in einer Wasserspiegelung. Sogar gestern noch, als er ihr in den Garten gefolgt war und mit ihr sprechen wollte, hatte sie den Blick abgewandt und so lange wie möglich vermieden, ihn anzublicken. Und nun war es so weit. Sie begegneten sich von Angesicht zu Angesicht.
Da Annetta wusste, dass Suor Caterina jede ihrer Regungen belauerte, war ihr klar, dass einer von ihnen beiden endlich etwas sagen musste.
»Ihr habt eine Nachricht für mich?« Ihre Frage klang lauter als beabsichtigt und hallte über die Steinplatten.
»Ja, Schwester«, begann er, »eine Nachricht von meinem Herrn – äh – Prospero Mendoza.«
Sie wusste sofort, dass er log.
So leise, dass Caterina sie nicht hören konnte, erwiderte Annetta: »Denkt Ihr wirklich, dass ich Euch das glaube? Ihr wart mit diesem Mann da, Suor Veronicas englischem Sammler, und der hat nichts mit Prospero Mendoza zu tun.« Sie verstummte. »Wer ist dieser Prospero überhaupt?«
Genauso leise wie Annetta antwortete er: »Prospero Mendoza ist ein Edelsteinhändler. Es tut mir leid, aber etwas Besseres ist mir so kurzfristig nicht eingefallen.« Seine Stimme klang angenehmer, als sie sie in Erinnerung hatte.
»Ich verstehe nicht. Niemand hat Euch gebeten herzukommen.« Sie trat einen Schritt zurück. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
»Kommt näher, und ich werde es Euch sagen.«
»Warum soll ich ausgerechnet Euch glauben? Was Ihr zu sagen habt, könnt Ihr mir auch auf die Entfernung sagen.«
»Wie Ihr wünscht.« Sein Blick huschte zu der anderen Nonne hinüber, die sie vom hinteren Ende des Empfangszimmers aus beobachtete. »Mein Name ist Carew. John Carew. Und Ihr seid Annetta.«
»Ich weiß, wie ich heiße.«
Die altbekannte Wut stieg wieder in ihr auf. Glaubte er wirklich, dass sie eine ebenso leichte Beute war wie die andere? Der Gedanke war so kränkend, dass sie ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte, aber sie beherrschte sich. Es gab andere, wirksamere Mittel der Rache. Sie konnte jederzeit jemanden rufen und ihn als monarchino entlarven. Aber sie zögerte. Welcher Wahn hatte ihn dazu getrieben, dieses Risiko einzugehen? Das hier war keine billige Verführung, es musste um etwas anderes gehen.
»Nun gut, John Carew«, sagte sie kühl und warf einen kurzen Blick über die Schulter hinweg zu Caterina, die gelangweilt dasaß und ihre Fingernägel inspizierte. »Ihr erklärt besser schnell, warum Ihr hier seid, und macht Euch dann wieder auf den Weg.« Sie sprach so, wie sie es bei den contesse gehört hatte, wenn diese mit einem Dienstboten redeten.
Einen
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