Das Mädchen von San Marco (German Edition)
der Vorschriften.
Annetta musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.
Obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wer Prospero Mendoza war, warnte sie ein starkes Gefühl davor, ihre Wissenslücke einzugestehen. In diesem Kloster mochte es zwar, was den Empfang von Besuchern anging, nachsichtiger zugehen als in anderen, aber Annetta wusste genau, dass die eigentliche Pförtnerin, Suor Chiara, den Besuch niemals gutgeheißen hätte. Das allein genügte schon, um Annettas Interesse zu wecken. Sie senkte sittsam den Blick, sodass die andere Nonne ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.
»Wo ist Suor Chiara?«
»Sie ist krank. Sie hat ein Fieber«, antwortete ihr Caterina kurz angebunden. »Unsere Mutter Oberin auch – habt Ihr nicht davon gehört?«
»Nein. Und dieser Prospero Mendoza – was will er?«, fragte Annetta mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Caterina gelangweilt. »Ist er nicht ein Edelsteinhändler aus dem Ghetto?«
Sie bedachte Annetta mit einem so kalten Blick, dass diese sich fühlte, als hätte man ihr eisiges Wasser ins Gesicht geschüttet.
»Ihr musstet doch etwas von Eurem Schmuck verkaufen, nicht wahr? Für Eure Mitgift?«
Der Giftpfeil wurde beiläufig abgeschossen, aber er fand sein Ziel. Annetta senkte den Kopf.
Ein Schmuckhändler? Sie verspürte einen Anflug von Besorgnis. Was wollte ein Schmuckhändler von ihr? Annetta ließ ihr Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske erstarren, um Caterina auch nicht den geringsten Einblick in ihr Inneres zu geben.
Aber Suor Caterina hatte dennoch Recht: Annetta hatte einmal eine beachtliche Menge an Schmuck besessen. Einige Stücke hatte ihr die Valide im Harem geschenkt, denn sie war immer sehr großzügig gegenüber ihren treuesten Dienerinnen. Das meiste jedoch hatte Annetta nach dem Tod der Valide als Mitgift erhalten, als sie wieder frei war und beschlossen hatte, in ihre Heimatstadt Venedig zurückzukehren. Sie hatte bis gerade eben nicht gewusst, dass der Verkauf dieser Juwelen allgemein bekannt war.
Alle Schmuckstücke waren durch einen Vermittler, den der Erzbischof von Torcello gefunden hatte, verkauft worden. Annetta trauerte dem Schmuck nicht nach. Bei all ihrer Liebe für schöne Kleidung waren ihr Edelsteine nie besonders wichtig gewesen. Im Grunde hatte sie die Haremsmädchen verachtet, die sich darum zankten und ihren hart verdienten Lohn für allen möglichen Tand ausgaben. Für diese Frauen waren Schmuckstücke wohl ein Art Trostpflaster. Für Annetta, die so viel von der Valide gelernt hatte, besaßen die Spinelle und Topase, Türkise und Perlen einen anderen Wert. Sie hatte gelernt, sie als Mittel zum Zweck zu betrachten, als einen Teil der weit verbreiteten, unauffälligen Haremswährung, sie zu nutzen als Tauschmittel für Einfluss und Macht.
Es gab nur einen Stein – den großen Diamanten der Valide, den Blauen Stein des Sultans –, der für sie überhaupt von Interesse war. Aber der war schon lange verschwunden, und sie erwartete nicht, ihn jemals wiederzusehen. Eingetauscht gegen das Wertvollste überhaupt: ein Menschenleben. Aber konnte ein gewöhnlicher venezianischer Edelsteinhändler etwas darüber wissen? Dies war so unwahrscheinlich, dass Annetta den Gedanken gleich wieder von sich wies. Was mochte Prospero Mendoza also von ihr wollen?
Es war noch lange nicht Mittag, und doch war der Tag bereits glühend heiß. Mit ihren langen Rockschößen, die sie noch immer zwischen den Fingern in die Höhe hielt, schwebte Suor Caterina graziös den dunkel gefliesten Gang entlang, so eilig, dass Annetta fast rennen musste, um mit ihr mitzuhalten.
Sie kamen am Herbarium vorbei, in dem es unverkennbar nach trocknenden Kräutern und Blumen duftete, und nahmen dann eine Abkürzung über den Küchenhof. Durch einen seitlichen Torbogen vermochte Annetta einen Blick in den Kräutergarten zu werfen. Scharlachrote und orangefarbene Kürbisse in der Größe von Wagenrädern waren an einer Mauer aufgestapelt, und auf der Türschwelle saß wie gewöhnlich die dicke Anna und schälte Erbsen. Aus der Küche drang der schwache Geruch von Zwiebeln und kochendem Fleisch.
Sie erreichten das Empfangszimmer durch einen Seiteneingang. Annettas Augen waren immer noch so stark vom Sonnenlicht geblendet, dass sie zunächst nur die dunkle Silhouette eines Mannes wahrnahm, der hinter dem Gitter auf sie wartete.
»Der dumme Kerl beharrt darauf, dass er Euch die Botschaft persönlich
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