Das Mädchen von San Marco (German Edition)
hatte sie sich noch in den Harem zurückversetzt geglaubt. Statt der weiß gekalkten Wände ihrer Zelle hatte sie die grün und rot gekachelten Wände der Kammer vor sich gesehen, die sie mit sechs der anderen kislar, der jungen Mädchen, teilte. Nur der Herrgott wusste, wie sie in all den Monaten darum gekämpft hatte, dass sie und Kaya beieinanderbleiben konnten. Und irgendwie war es ihnen gelungen.
Und nun begann Annetta in der Stille ihrer Zelle, die nur spärlich vom Licht der flackernden Kerzen im Flur erhellt wurde, ihre Geschichte zu erzählen.
»Celia und ich wurden zusammen nach einem Schiffbruch von Korsaren gefangen genommen. Das habe ich dir, glaube ich, schon erzählt. Wir wussten nicht, was aus uns werden würde, aber wir waren fest entschlossen zusammenzubleiben, was auch immer geschah. Ich bin ja eher ein dunkler Typ, aber Celia war eine englische Rose, wie man in ihrem Land zu sagen pflegt. Sie hatte helle Haut und rotgoldenes Haar, das von den Türken hoch geschätzt wird. Ich habe oft meinen Arm um sie gelegt und meine Wange an ihre – so etwa.« Annetta beugte sich zu Eufemia hinüber. ›Die Dunkle und die Helle zusammen, meine Gebieterin. Schaut, wir könnten Zwillinge sein‹, habe ich oft zur Mutter des Sultans gesagt, und sie hat gelächelt.
Wir wurden als Pärchen von einer Sklavenhändlerin in Konstantinopel gekauft. Sie war es, die unsere Namen änderte, von Annetta und Celia in Aysche und Kaya. Und sie war es auch, die uns an die Lieblingsfrau des Sultans verkaufte, eine Dame, die uns allen als Haseki bekannt war und die uns der Valide, der Sultansmutter, schenkte. Unsere gemeinsamen Jahre im Harem verbrachten wir als Kammerdienerinnen der Valide.« Annetta verstummte und hing ihren Erinnerungen nach.
»Es war keine unglückliche Zeit«, fuhr sie nach einer Weile fort, »zumindest nicht für mich. Ganz und gar nicht. Ich hatte hier im Kloster schon als conversa gelebt, weil meine Mutter mich als kleines Mädchen hergegeben hat. Ich hatte nichts dagegen, aber es war kein leichtes Leben. Du weißt selbst, wie die converse von den Chornonnen behandelt werden – nicht viel besser als Dienstboten. Aber im Harem war alles ganz anders. Niemand kümmert sich darum, aus welcher Familie du stammst. Sie haben sich kein Deut darum geschert, ob dein Name im Goldenen Buch steht oder ob dein Großvater im Rat der Zehn gesessen hat. Alle kislar waren gleich. Mir ist es sehr gut ergangen, ganz ehrlich.« Annetta lächelte in sich hinein. »Ich war vielleicht nicht so schön wie Celia, aber ich lerne sehr schnell. Die Valide fand Gefallen an mir. Ich sah, was für eine Frau sie war und wie sie bestimmte Dinge erledigt haben wollte, und lernte, jedes ihrer Bedürfnisse vorauszuahnen. Es dauerte nicht lange, und sie machte mich zu einer ihrer vier Kammerdienerinnen. Ich war ja daran gewöhnt, Botendienste für andere Leute zu verrichten, aber im Harem ging es ganz anders zu als hier! Im Harem war das eine wichtige Arbeit. Ich bekam wunderschöne Kleider und sogar Schmuck. All die anderen Mädchen blickten damals zu mir auf. Alle respektierten mich, sogar die älteren Frauen wie die Haremsverwalterin und die Aufseherin der cariye, der jungen Mädchen, weil ich der Valide nahestand und ihr Vertrauen besaß.
Aber für Celia war alles anders. Celia konnte sich überhaupt nicht an ihr neues Leben gewöhnen. Sie dachte immer nur an das Zuhause, das sie verloren hatte, an ihren Vater, der bei dem Schiffbruch umgekommen war, und an den Kaufmann, in den sie verliebt war und den sie heiraten wollte. Madonna! Besonders an den!« Annetta zog die Brauen zusammen. »Immer dieses Jammern und Klagen und die endlosen Fragen, ob er wohl jemals erfahren würde, was aus ihr geworden war, oder ob er wohl dachte, dass sie tot neben ihren kostbaren Mitgifttruhen auf dem Meeresgrund läge.« Sie schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Manchmal hätte ich sie am liebsten geschüttelt. Sie wollte ihn sich einfach nicht aus dem Kopf schlagen, sie träumte jede Nacht von ihm.
›In dem Fall wäre es fast besser, wenn du nicht schläfst‹, sagte ich immer wieder zu ihr. ›Vergiss deine Träume. Vergiss all das, du dummes Mädchen. Die Vergangenheit ist dir hier nicht von Nutzen, verstehst du? Denk an die Zukunft, Gänschen, sie ist deine einzige Hoffnung.‹ Aber es half nichts. Auch nicht, als sie gözde wurde.«
»Was bedeutet das?«
» Gözde heißt ›im Auge›. Im Auge des Padischahs.«
»Du meinst, der Sultan
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